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Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst
Autoren: Lisa Gardner
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bekam, bevor um fünf wieder der Wecker klingelte und das ganze Vergnügen von vorne anfing.
    Stattdessen jedoch fühlte er sich merkwürdig zappelig und von einer inneren Nervosität getrieben. Und dabei galt er doch sonst als Inbegriff von Ruhe, Vernunft und Gelassenheit.
    Also ging Bobby nicht nach Hause, sondern vertauschte die Uniform mit Jeans und einem Flanellhemd und machte sich auf den Weg in seine Stammkneipe.
    Im Boston Beer Garden saßen vierzehn Männer am rechteckigen Tresen, rauchten ihre Zigaretten, ein Glas frisch gezapftes Bier vor sich, und stierten in die Fernseher mit Plasmabildschirm. Bobby nickte ein paar Bekannten zu, winkte Carl, den Barmann, heran und ließ sich dann, ein Stück entfernt von den anderen, auf einem Barhocker nieder. Carrie brachte ihm wie immer eine Portion Nachos, Carl servierte ihm persönlich die Cola. »Langer Tag, Bobby?«
    »Dasselbe wie immer.«
    »Kommt Susan auch noch?«
    »Sie hat Probe.«
    »Ach ja, das Konzert. In zwei Wochen, richtig?« Carl schüttelte den Kopf. »Schön und begabt. Eins sage ich dir, Bobby, bei der könnte ich schwach werden.«
    »Lass das nur nicht Martha hören«, erwiderte Bobby. »Nachdem ich deine Frau beim Bierfass-Schleppen gesehen habe, möchte ich lieber gar nicht wissen, was sie so alles mit einem Nudelholz anstellen könnte.«
    »Bei meiner Martha werde ich auch schwach«, beteuerte Carl. »Ansonsten müsste ich nämlich um mein Leben fürchten.«
    Carl überließ Bobby seiner Cola und den Nachos. Im Fernseher über dem Tresen meldeten die Nachrichten gerade, in Revere sei es zu einer Krisensituation gekommen. Ein schwer bewaffneter Verdächtiger habe sich in seinem Haus verschanzt und zuvor wahllos auf seine Nachbarn geschossen. Inzwischen habe die Bostoner Polizei ein Sondereinsatzkommando hingeschickt, denn »man wolle kein Risiko eingehen«.
    Ja, der November war wirklich ein seltsamer Monat. Die Menschen waren gereizt und wussten ihrem Grauen vor dem bevorstehenden trüben Winter nichts entgegenzusetzen. Selbst Kerle wie Bobby hatten ihre liebe Not, sich nicht von dieser Stimmung anstecken zu lassen.
    Bobby verspeiste seine Nachos und leerte das Colaglas. Dann bezahlte er. Gerade hatte er es geschafft, sich zu überreden, dass es das Beste war, nach Hause zu fahren, als an seinem Gürtel plötzlich der Piepser losging. Nachdem er rasch den Text auf der Anzeige gelesen hatte, hastete er zur Tür.
    Es war ein scheußlicher Tag gewesen. Und nun sah es ganz danach aus, als wäre er noch lange nicht zu Ende.
     
    Auch Catherine Rose Gagnon war nicht unbedingt eine Freundin des Monats November, selbst wenn ihr Problem eigentlich schon im Oktober angefangen hatte. Am 22. Oktober 1980, um genau zu sein.
    Die Luft war warm, und die Sonne hauchte ihr einen heißen Kuss aufs Gesicht, als sie von der Schule nach Hause ging. Sie hatte ihre Bücher im Arm und trug ihre eigens für den Schulanfang gekaufte Lieblingskombination, bestehend aus braunen Kniestrümpfen, einem dunkelbraunen Kordrock und einem langärmeligen goldgelben Oberteil.
    Von hinten näherte sich ein Auto. Zunächst fiel es ihr gar nicht auf, doch dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass der blaue Chevy im Schritttempo neben ihr herfuhr. Eine Männerstimme: »Hallo, Kleine, kannst du mir vielleicht helfen? Ich suche einen entlaufenen Hund.« Und dann gab es nichts mehr als Schmerzen, Blut und erstickte Schreie. Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ihre Zähne, wie sie sich in ihre Unterlippe gruben. Gefolgt von endloser Leere.
     
    Später sagte man ihr, es wären achtundzwanzig Tage gewesen. Doch während es andauerte, hatte Catherine nicht die geringste Möglichkeit, das festzustellen. In der Dunkelheit gab es keine Zeit, nur eine Einsamkeit, die sich bis in alle Ewigkeit zu erstrecken schien. Kälte und Totenstille, nur davon unterbrochen, wenn er wiederkam. Aber wenigstens geschah dann endlich etwas. Denn es war das Nichts, der nicht abreißen wollende Strom des Nichts, der einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte.
    Jäger fanden sie. Am 18. November. Sie bemerkten die Abdeckung aus Sperrholz, stießen mit ihren Gewehren dagegen und hörten zu ihrem Schrecken leise Rufe. Die stolzen Retter befreiten Catherine aus ihrem eins zwanzig mal eins achtzig großen unterirdischen Gefängnis und entließen sie in die frische Herbstluft. Sie sah die Fotos von sich in der Zeitung: gewaltige dunkelblaue Augen, ihr Kopf gleich einem Totenschädel, ihr Körper mager und
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