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Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest
Autoren: Marc-Uwe Kling
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den Betrieb
    Peter: Guten Tag, Antonio und Carlos. Was habt ihr heute gemacht?
    Antonio: Wir sind heute das erste Mal in den Betrieb gefahren.
    Peter: Wann seid ihr zur Haltestelle gegangen?
    Carlos: Schon um 5:20 Uhr. Zuerst ist der Bus Linie 12 gekommen, aber den Bus haben wir nicht genommen. Er fährt nicht zum Betrieb.
    Peter: Habt ihr lange gewartet?
    Antonio: Vielleicht 10 Minuten.
    Peter: Und wie lange dauert die Fahrt zum Betrieb?
    Antonio: Ungefähr 15 Minuten.
    Peter: Habt ihr pünktlich mit eurer Arbeit begonnen?
    Carlos: Ja, pünktlich um 6.«
    Ich klappe das Buch wieder zu,
    »Glaubst du, Peter war bei der Stasi?«, frage ich.
    »Wahrscheinlich waren sie alle drei bei der Stasi«, sagt das Känguru. »Ich stand jedenfalls nicht um 5:20 an der Bushaltestelle, um den Leuten in der Linie 12 zu winken. Klapp mal ganz hinten auf.«
    Ich tue wie mir geheißen. Da liegen sorgfältig abgezogen und geplättet zwei Weihnachtsmänner.
    »Los! Hol dein Stickeralbum«, sagt das Känguru, »dann können wir tauschen.«

Ich setze mich an meinen Computer und hole meine E-Mails ab. Einige davon lese ich und schiebe sie in den »Beantworten«-Ordner meines Mail-Programms. Dann verschiebe ich ein paar ältere E-Mails aus dem »Beantworten«-Ordner in den »Dringend«-Ordner, und dann verschiebe ich ein paar noch ältere E-Mails aus dem »Dringend«-Ordner in den »Wirklich dringend«-Ordner. Dann lösche ich einige von der Zeit überholte E-Mails aus dem »Wirklich dringend«-Ordner und schalte den Computer wieder aus. Es überkommt mich das wohlige Gefühl, heute schon richtig was erledigt zu haben.
    Das Känguru sitzt am Schreibtisch und kritzelt in ein kleines Buch.
    »Hast du zufällig mein Jo-Jo gesehen?«, frage ich. »Weißte? Das aus Terrakotta, das mir der chinesische Jo-Jo-Guru geschenkt hat.«
    »Nein«, sagt das Känguru ohne aufzublicken.
    »Ich warne dich«, sage ich. »Wenn du es heimlich genommen hast, dann müsste ich das als Vertrauensbruch erster Güte werten und die Konsequenzen …«
    »Schreib mir doch diesbezüglich eine E-Mail«, sagt das Känguru, »und setze die Worte Viagra und Penispumpe in den Betreff. Dann kümmert sich mein Spamfilter drum. Und jetzt sei still, ich muss mich konzentrieren.«
    »Was schreibste denn da überhaupt?«
    »Ich habe mich entschlossen, ein Tagebuch zu führen. Der Gedanke wurde mir nämlich unerträglich, dass meine unglaublich reiche und gehaltvolle Gedankenwelt für die Nachwelt verloren sein soll.«
    »Aber ich schreibe doch sowieso immer alles mit«, sage ich.
    »Nicht meine innersten Gedanken«, sagt das Känguru. »Die kennst du nicht.«
    »O doch!«, sage ich. »Ich weiß, was du denkst.«
    »So?«, fragt das Känguru. »Was denke ich denn?«
    »Du denkst: ›Zeit für ein Schnitzelbrötchen.‹«
    Das Känguru blickt auf.
    »Das war nur Zufall!«, ruft es.
    »Darf ich dein Tagebuch lesen?«, frage ich.
    »Oh! Ganz im Gegenteil«, sagt das Känguru. »Das müsste ich als Vertrauensbruch erster Güte werten.«
    Es steht auf, packt das Buch in die Schreibtischschublade und schließt diese ab.
    »Ich geh jetzt ins Fitnessstudio«, sagt es. »Muss für die Schachboxweltmeisterschaft trainieren«, und gleich darauf ist es verschwunden.
    Der Schlüssel zur Schublade steckt.
    Plötzlich höre ich die Stimme von Prinzessin Leia in meinem Kopf. Sie ruft: »Luke! Luke! Eine Falle! Eine Falle!«
    Vorsichtig öffne ich die Schublade. Nichts explodiert. Ich nehme das Büchlein heraus und lese:
    »Hallo blödes Tagebuch. Es langweilt mich jetzt schon, dir zu berichten. Der Gedanke, in späterer Zeit nachlesen zu müssen, was für einen Schwachsinn ich heute gedacht habe, ist mir ein Gräuel. Zum Beispiel habe ich mich heute Morgen gefragt, in wie vielen amerikanischen Universitäten Kant wegen seines obszönen Namens wohl vom Lehrplan gestrichen wurde.
    Und danach kam mir der Gedanke, dass mal jemand ein Wort erfinden sollte, das man fluchend rufen kann, wenn einem plötzlich auffällt, dass man ganz schön verarscht worden ist. Ich schlage ›Razupaltuff!‹ vor.
    Jetzt gerade denke ich, dass ich versuchen sollte, den geliebten Führer Nordkoreas, den iranischen Präsidenten, den israelischen Premier und die ehemalige Gouverneurin von Alaska dazu zu bringen, ihre finanziellen Differenzen zu überwinden und unter dem Namen ›Die Fanatischen Vier‹ die erste schwizerdütsche Hip-Hop-Platte von Weltgeltung zu veröffentlichen. Ich würde das produzieren. Und dann würde
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