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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
Autoren: Maggie Shipstead
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1 · Das Jungfernschloss
    S onntag würde die Hochzeit vorbei sein, darüber war Winn Van Meter froh. Heute war Donnerstag. Er wachte früh auf, allein in seinem Haus in Connecticut, über den Bäumen blinzelten noch die letzten Sterne. Seine Frau und die beiden Töchter waren schon im Inselhaus auf die Waskeke, und beim Wachwerden dachte er an sie, dort in ihren Betten: Biddy auf ihrer Hälfte, die sie nicht verließ, die Haare seiner Töchter wie Fächer auf den Kissen. Doch vorher noch dachte er an eine andere junge Frau (dachte war zuviel gesagt – ihr Bild war wie eine Blase, die an der Oberfläche eines Traums zerplatzte). Sie schlief ebenfalls auf Waskeke und lag vermutlich in einem Messingbett in einem der Gästezimmer, ganz oben unter dem Dach.
    Meistens war Winn morgens sofort wach, und sein Oberkörper richtete sich aus den Laken auf wie der Mast eines Segelboots, doch heute stellte er den Wecker aus, bevor er klingeln konnte, und streckte die Gliedmaßen in alle vier Ecken des Bettes. Das Zimmer war still, halbdunkel, bläulich. Eigentlich missbilligte er Faulenzen im Bett. Verlorene Zeit war nicht wieder wettzumachen, und verpasste Vormittage ließen sich nicht zu späterem Gebrauch horten. Tage waren dazu da, dass etwas geleistet wurde. Auf, auf, die Sonne ist da. Zu diesem Spruch hatte er seinen Töchtern, alssie klein waren, mit Schwung die Decken weggezogen, und da lagen sie, wie Krabben eingerollt auf ihren Matratzen. Jetzt war Daphne eine Braut (eine schwangere Braut, wie nicht zu übersehen war), und Livia, ihre jüngere Schwester, die erste Brautjungfer. Die Mädchen und ihre Mutter verbrachten schon die ganze Woche auf der Insel, zusammen mit einer ständig wachsenden Schar von Brautjungfern und Verwandten und künftig angeheirateten Verwandten, doch er hatte entschieden, dass er es sich nicht leisten konnte, so lange der Arbeit fernzubleiben. Was auch stimmte. Eine ganze Woche an der Hochzeitsfront – unerträglich, und außerdem hegte er nicht den geringsten Wunsch festzustellen, dass die Bank auch ohne ihn weiterlief und keiner seine Abwesenheit bemerkte, außer den jungen Haien in Nadelstreifen, die seinen Schreibtisch immer gieriger umkreisten.
    Er schaltete das Licht an. Die Fenster wurden schwarz, das Zimmer gelb. Sein künstlich erhelltes Spiegelbild trat an die Stelle der Sterne und Bäume, und einen Augenblick tat es ihm leid, mit dem Lampenlicht die morgendliche Welt im Frühlicht ausgelöscht und wieder in Nacht verwandelt zu haben. Doch weil er ein praktischer Mensch war und keine poetisch empfindsame, von Sternenschein und Schlafstörungen geplagte Seele, griff er nach seiner Brille und schwang die Beine aus dem Bett. Seine Reisesachen hatte er sich vor dem Schlafengehen zurechtgelegt, und als er frisch rasiert und nach Bay Rum duftend aus der Dusche kam, kleidete er sich mit höchster Effizienz an und lief, überall das Licht anknipsend, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Biddys Grand Cherokee hatte er am Abend zuvor beladen, auf den Zentimeter genau: lauter vergessene Sachen, um die ihn die Frauen gebeten hatten, Beutel und Kartons mitLebensmitteln, seine Kleidung und allerlei Geraffel für die Hochzeit. Während die Kaffeemaschine lief, ging er mit der Liste, die er auf einem gelben Schreibblock führte, nach draußen und nahm die letzte Durchsicht vor. Er kontrollierte eine Reihe Einkaufstüten auf dem Rücksitz, öffnete die Fahrertür und machte einen Strich durch das Aufladegerät fürs Mobiltelefon, die Rolle mit den Fünfundzwanzigcentstücken und den Straßenatlas – dabei hätte er die Strecke mit geschlossenen Augen fahren können. Hinten bildeten Kleidersäcke und vollgestopfte Reisetaschen einen Wall, der so hoch war, dass er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um sich zu vergewissern, dass unter dem Haufen die glänzend weiße kindersarggroße Schachtel mit Daphnes Hochzeitskleid lag.
    »Vergiss das Kleid nicht, Daddy«, hatte die Stimme seiner Tochter gestern Abend auf dem Anrufbeantworter gemahnt. »Hier, Mama will noch was sagen.«
    »Vergiss das Kleid nicht, Winn«, sagte Biddy.
    »Ich werde das verfluchte Kleid nicht vergessen«, hatte Winn dem Anrufbeantworter versprochen.
    Er strich »Kleid« von der Liste und knallte die Heckklappe zu.
    Die Vögel zwitscherten, und durch den Morgendunst drang Sonnenlicht und vergoldete das wogende Wiesengras und die niedrige Natursteinmauer des benachbarten Anwesens. Winn schlenderte die Auffahrt hinunter und
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