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Heavy Cross

Heavy Cross

Titel: Heavy Cross
Autoren: Ditto Beth
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EINS
    1
    EINST WAR JUDSONIA, ARKANSAS, eine blühende Metropole, die mit dem Rest des Landes durchaus Schritt halten konnte. Die Menschen waren voller Hoffnung – sie arbeiteten, kauften ein, lebten. Es gab ein College für junge Damen und einen Bereich auf dem Stadtfriedhof, der den gefallenen Soldaten der Unionsstaaten vorbehalten blieb – mitten unter all den toten Konföderierten. Bis in die Vierzigerjahre war das so. Doch dann wirbelte 1952 ein Tornado durch die Stadt und riss alles nieder. Außer Staub und Depressionen blieb nichts zurück. Danach verging die Zeit nur noch in zähem Fluss, und die Menschen wurden träge und traurig. Seitdem hat sich Judsonia einfach nicht mehr in demselben Tempo weiterentwickelt wie der Rest des Landes.
    Ich war dreizehn Jahre alt und gammelte in Jogginghose und T-Shirt in einem fast menschenleeren Haus herum. Das war zu Beginn der Neunzigerjahre, aber es hätten genauso gut auch die Achtziger oder die Siebziger sein können.
    Ich, Mary Beth Ditto, war an jenem Tag nicht zur Schule gegangen und faulenzte. Normalerweise tobten viel zu viele Kinder durch das Haus und zehrten an den Nerven meiner kranken Tante, doch an jenem Tag herrschte beinahe friedliche Stille. Kommt bloß nicht auf die Idee, ich sei ein aufmüpfiges Mädchen gewesen, nur weil ich die Schule schwänzte. Keineswegs. Brav war ich allerdings auch nicht, und keine spießige Streberin, die ihre Hausaufgaben immer pünktlich ablieferte und den Lehrern in den Hintern kroch. Und ganz bestimmt war ich keine kleine Kriminelle, die sich vor dem Unterricht drückte, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ich wollte einfach nur wissen, wie man sich in diesem großen, sonst so hektischen Haus fühlte, wenn es ruhig war.
    Meine drei kleinen Cousins und Cousinen – ihre Namen fingen alle mit A an – waren in der Schule. Sie hatten das Pech, als Kinder der schlechtesten Mom der Welt geboren worden zu sein, deshalb wohnten sie jetzt bei Tante Jannie. Als die Mitarbeiterin des Jugendamts zum vierten Mal erschien, prüfte sie die Verhältnisse ganz genau, um festzustellen, ob die drei kleinen As irgendwo noch Familie hatten, die sie aufnehmen konnte, und als sie Tante Jannie ansprach, sagte die natürlich Ja. Die As machten sich ihre Betten auf Tante Jannies Sofas und Sesseln zurecht oder kuschelten sich nachts einfach irgendwo an einem warmen Fleckchen aneinander. Ihre Ankunft reihte sich ein in die Familientradition – die Tradition einer schier unüberschaubaren Familie, denn wir wurden immer mehr. Früher oder später klopften alle auf der Suche nach einem Schlafplatz bei Tante Jannie und Onkel Artus an die Tür. Irgendetwas trieb uns alle zu den beiden. Im Falle der As war es die betrunkene Mutter, bei mir war es mein gewalttätiger Stiefvater und bei meiner Mutter ihr eigener Vater, der sie sexuell missbrauchte. Außerdem gab es unzählige Hausgäste, die dort vorübergehend Unterschlupf fanden, wie zum Beispiel meine Cousinen, deren Mutter ihren Ehemann erschossen hatte. Kinder kamen und gingen, je nachdem wie es die Tragödien und besonderen Lebensumstände diktierten. Tante Jannie konnte einfach kein Kind abweisen – auch nicht, als sie wegen ihrer Diabetes selbst schon schwerfällig und schwach geworden war.
    Tante Jannie hatte im Laufe der Jahre so viele Menschen aufgenommen, dass ihr Haus wahrscheinlich seltsam leer gewirkt hätte, wäre nicht in jeder Ecke ein Streuner untergekrochen. Sie hatte ein gutes und großzügiges Herz, auch wenn sich ein undurchdringlicher Panzer aus Schmerz darum gelegt hatte. In seinem Innersten war es ein pochendes, warmes, glühendes Ding und verantwortlich dafür, dass Tante Jannie all die Heimatlosen aufnahm. Sie hat nie ausgerechnet, was es sie kostete, die halbe Stadt zu retten. Alle liebten Tante Jannie, weil sie so große Opfer brachte. Helfen zu wollen war für sie ein natürlicher Impuls, und jedermann erwartete von ihr, dass sie ihre Tür öffnete. Irgendwann bedeutete das allerdings, dass sie gar nicht mehr Nein sagen konnte, auch wenn sie es vielleicht häufiger hätte tun sollen. Sie war am Ende ihrer Kräfte und hätte wahrscheinlich selbst Hilfe gebraucht. Aber ich weiß nicht, wen sie darum hätte bitten können, denn sie war immer selbst diejenige, die anderen etwas gab.
    Tante Jannies Tochter Jane Ann wohnte ebenfalls in dem großen Haus. Jane
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