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Heavy Cross

Heavy Cross

Titel: Heavy Cross
Autoren: Ditto Beth
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Ann war jung genug, um für mich wie eine Schwester zu sein, aber auch alt genug, um mich zu einem Konzert der Rolling Stones mitzunehmen. Tante Jannies Sohn war Teenager und der inoffizielle König des Hauses. Während wir anderen uns wie wilde Tiere auf der Suche nach einem geeigneten Fleckchen verteilten, besaß Dean ein eigenes Zimmer für sich ganz allein. Ein eigenes Zimmer! So viel Luxus war für mich unfassbar. Wie eine vom Schicksal geknechtete Märchenprinzessin musste ich mir meine Aufenthaltsberechtigung damit verdienen, dass ich auf die kleinen As aufpasste und Tante Jannie bei ihrem Selbstmord auf Raten zusah – ich füllte ihre Glaskanne mit Crystal Light, einer zuckerfreien Limonade aus Brausepulver, von der sie ebenso abhängig war wie von den fünf Schachteln Winston, die sie täglich rauchte. Wenn man sich um Tante Jannie kümmerte, bedeutete das, unzählige Päckchen Brausepulver in vielen verschiedenen künstlichen Geschmacksrichtungen aufzureißen und den zitronigen Süßstoffpulverduft einzuatmen, bis er einem die Nase verklebte. Anschließend stellte man die Kannen auf den Küchentisch, an dem Tante Jannie saß und sich eine Winston an der anderen ansteckte. Ständig kokelte etwas im Aschenbecher. Ich saß unter Tante Jannies Dunstglocke und hörte zu, wenn sie von alten Zeiten in Judsonia erzählte. Meine Hauptaufgabe bestand darin, Publikum für ihre verrückten Geschichten zu sein. Sie fraßen sich tiefer in meine Fantasie als das Fernsehen und mit großen Augen lauschte ich, wenn sie Absonderliches erzählte. Wie zum Beispiel, dass sie als kleines Mädchen vor ihrer an den Rollstuhl gefesselten Mutter ausgerissen und auf die Möbel geklettert war, damit die durch Kinderlähmung verkrüppelte Frau sie nicht zu fassen bekam. Tante Jannie war ein heißblütiger Skorpion. Heimlich hatte sie sich als Dreizehnjährige zu einem Schuppen am Fluss geschlichen, in dem sich hinter verschlossener Tür eine verbotene Jukebox befand – denn Tanzen wurde in Judsonia nicht geduldet. Deshalb war Tante Jannie, die voller aufgestauter Energie und Leben steckte, mit anderen rebellischen Teenagern in den Wald gezogen, wo sie gemeinsam tanzten, sich mit schwarzgebranntem Schnaps betranken und die Nacht zum Tag machten.
    Tante Jannie hatte in ihrer Jugend sehr unter der Last der Konventionen gelitten und sie mit der Wucht ihres rhythmisch zuckenden Körpers von sich gestoßen. Zwischen Glücksrad und Jeopardy! erzählte sie mir davon, erriet gleichzeitig alle Antworten und schlug zufrieden mit der Hand auf den Tisch, wenn der aalglatte Moderator deren Richtigkeit bestätigte. Tante Jannie hätte als Teilnehmerin einer Quizshow bestimmt eine Menge Geld verdient. Aber niemand lud sie ein, und so war sie einfach nur schlau, die Klügste, ein Genie, das die Antwort immer schon wusste, bevor Vanna White die Vokale umklappte oder irgendein Lehrer aus Omaha den Buzzer betätigte. Tante Jannie hatte Grips, sie war sogar gut in Mathe, hatte die Schule aber schon mit vierzehn Jahren verlassen, weil sie schwanger wurde. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihr, denn später verlor sie den Vater ihres Kindes, ihre große Liebe, bei einem Autounfall. Das jedenfalls war Tante Jannies Geschichte. Als halbstarker Hausdespot musste Dean nicht bei Tante Jannie sitzen oder die drei kleinen As in Schach halten. Nicht einmal ansatzweise gehörte es zu seinen Aufgaben, das wüste Durcheinander im Haus oder die beiden ekelhaftesten Köter überhaupt – Alex und Cleo – in den Griff zu bekommen. Er hatte mit alldem nichts zu schaffen. Wie ein Adliger hielt er sich einfach in seinen Gemächern auf. Er war nur ein Jahr älter als ich und noch kleiner, höchstens eins sechzig.
    Dean war ein Meister im Billard. Ständig trieb er sich in Billardsalons herum, spielte mit erwachsenen Männern um Geld und kam mit zusammengeknüllten Scheinen in den Taschen seiner Levi’s nach Hause: zwanzig, fünfundzwanzig Dollar. Das war eine Menge Geld für einen Teenager in Judsonia. Er gab es für Gras aus, das er oft aus Wasserpfeifen rauchte, oder er kaufte eine Kiste mit Hochprozentigem, den er sich mit seinen Freunden im Wald hinter die Binde kippte. Seine teuren Polohemden, Ledermokassins und Levi’s – den gepflegten Schnösel-Look, den er perfekt kultivierte – schaffte er sich mit
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