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Kehraus fuer eine Leiche

Kehraus fuer eine Leiche

Titel: Kehraus fuer eine Leiche
Autoren: Martina Kempff
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1_ERSCHRECKEN
Mittwochnachmittag
    »Möchten Sie ein Huhn adoptieren?«
    Die Stimme klingt weich, weiblich und sehr jung. Dennoch jagt sie mir einen Todesschreck ein. Ich habe keinen Menschen herankommen hören. Niemals wäre ich vor meinem Restaurant auf die Leiter gestiegen, wenn ich irgendjemanden in Sichtweite vermutet hätte. Zentnermenschen wie ich vertrauen ihr Gewicht ohnehin nicht gern ansteigenden Sprossen an. Aber mir bleibt keine Wahl. Weil das immer noch schief hängende Restaurantschild meine Mitarbeiter nicht zu stören scheint, werde ich es eben selbst gerade rücken müssen.
    An diesem ungewöhnlich freundlichen Frühlingstag Ende April rechne ich mit keiner Windhose, die mich herabschleudern könnte. Wiewohl ich sehr gut weiß, dass hier in der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, nicht nur jede von mir bestiegene Leiter, sondern auch das Wetter sehr schnell umschlagen kann.
    Wenn die Einkehr morgen endlich aufmacht, soll alles perfekt sein. Schließlich habe ich lange genug auf dieses Ereignis warten müssen. Nicht nur Behördenquälereien, sondern vor allem Gewaltverbrechen scheußlichster Art hatten die Eröffnung meines speziellen Feinschmeckerrestaurants immer weiter hinausgezögert.
    Aber da nicht nur meine Zukunft, sondern auch die meiner Freunde vom Erfolg der Einkehr abhängt und ich zudem aus statistischen Gründen davon ausgehe, dass in diesem Flecken namens Kehr für Jahrhunderte im Voraus genug gemordet worden ist, bin ich hier an der deutsch-belgischen Grenze geblieben. Mit dem Restaurantschild hat Jupp heute früh unsere Zukunft festgenagelt. Nur leider schief.
    Ästhetisch und symbolisch verstörend. Darum bin ich in die Luft gegangen.
    Aus der ich jetzt äußerst vorsichtig hinabsteige.
    »Wie bitte?«, frage ich, als ich wieder meinen eigenen festen Grund unter den Füßen habe.
    Vor mir steht ein streng bezopftes blondes Mädchen in einem viel zu umfänglichen geblümten Kittelkleid, das in den Fünfzigerjahren wohl der letzte Schrei gewesen sein mag. Unter dem absurden Gewand lässt die Frühlingsbrise eine sehr zierliche Figur erahnen. Ein solches Bauernkind habe ich hier noch nie gesehen. Es hält mir ein Papptablett mit Eiern hin und wiederholt die Frage, die mich erschreckt hat: »Möchten Sie ein Huhn adoptieren?«
    »In der Schale?«, gebe ich prompt zurück und streichele ein braunes Ei.
    »Natürlich nicht«, flüstert das vielleicht fünfzehnjährige Mädchen, wird knallrot und verstummt. Offensichtlich pubertäre Verlegenheit. Erst als sie mich fast flehentlich ansieht, fällt mir auf, wie ausnehmend hübsch das so unvorteilhaft hergerichtete Geschöpf ist. Eine zarte exquisit erblühte Schönheit, bei der sich bereits klassische Züge ähnlich denen einer Diva der Kinofrühzeit abzeichnen.
    Kein Modefotograf würde an einer solchen Versuchung vorbeigehen können, ohne ihr mit ein paar aufmunternden Worten seine Visitenkarte zuzustecken. In meinem früheren Leben als Moderedakteurin für ein Hochglanzblatt ist mein Blick für das optisch Besondere im Alltäglichen aufs Feinste geschärft worden. Dieses Engelsgesicht ist eine Sensation.
    »Wenn du einen Witz machst, darf ich das auch«, gebe ich sanft zurück. Ich überlege, ob es nun ein Segen oder ein Fluch ist, dass die großen dunkelblauen Augen unter diesen Nerzhaar-Wimpern nur kuhbestandene Weiden und menschenleere Weiten erblicken müssen.
    »Es ist kein Witz. Wenn Sie ein Huhn adoptieren, schenkt es Ihnen jeden Tag ein Ei«, erwidert sie.
    »Schau mal«, sage ich, deute nach oben auf das Schild und sehe gleich wieder weg. »Das hier ist ein Restaurant. Was nutzt mir da ein einziges Ei am Tag?«
    »Eben!«, bestätigt das Mädchen. »Wenn Sie zehn Hühner adoptieren, kommt Sie das im Monat günstiger, als jeden Tag zehn Eier woanders zu kaufen.«
    Vorsichtig stellt sie das Eiertablett auf einem der beiden Gartentische am Eingang ab.
    »Genauso stelle ich mir mein Restaurant vor«, sage ich kopfschüttelnd. »Unter jedem Stuhl scharrt ein Huhn.«
    »Nein, nein«, sagt die schöne junge Hühneradoptionsvermittlerin, »die Tiere bleiben bei uns; Sie müssen sich um gar nichts kümmern, und die Eier bringe ich Ihnen jeden Tag selbst her. Ein Huhn kostet zehn Euro im Monat, zehn Hühner sind achtzig Euro und zwanzig Hühner hundertfünfzig Euro. So viel Bioeier im Laden kosten …«
    »… mehr«, erwidere ich nickend, ohne nachzurechnen. Als Schwan unter Hühnern. So ähnlich könnte die Schlagzeile lauten, mit der
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