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Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Titel: Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka
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DER ZAUBERER IM SCHNEE
    K eine Geschichte beginnt ohne das, was zuvor passiert ist. Länder haben ihre Legenden, Völker ihre Mythen und Männer und Frauen ihre Erinnerung, die sie erst zu dem macht, was sie sind – und manchmal daran hindert, die zu werden, die sie sein wollen.
    Für April beginnt die Geschichte an einem Wintertag. Schneeflocken treiben durch die kristallklare Luft, wie Kirschblüten im Frühjahr. April, fast sieben und wie immer allein, rennt in ihrem Wollmantel über die alte Weide am Dorfrand, spürt Eichhörnchen nach oder malt Figuren in den Schnee. Sie hat nur wenige Freunde, und ihren Vater meidet sie, so gut sie kann. Der plötzliche und unerwartete Wintereinbruch ist eine willkommene Abwechslung.
    Da sieht sie den Mann in dem blauen Umhang in einiger Entfernung auf der anderen Seite des Zauns, wo die Wiese sich bis zum Wald hin erstreckt. In der anderen Richtung führt sie hinunter zum Fluss, dessen Ufer seit Wochen von einer dünnen Eisschicht überzogen sind, blind von Nebel und Schnee. Der Mann steht verloren in einem Meer silbernen Schilfgrases, dessen erstarrte, gebrochene Halme in alle Richtungen weisen. Auf dem Kopf trägt er einen eigenartigen Hut, der sie an einen vornehmen Herrn denken lässt.
    Neugierig tritt April näher.
    Die östlichen Provinzen sind in den späten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts pherenidischer Zeitrechnung kaum das,was man als eine sichere Gegend bezeichnen würde. Das Strahlende Reich steht vor dem Auseinanderbrechen, ein Kaiser folgt dem nächsten ins Grab, und die Präfekten und Dons walten, wie ihnen beliebt. Häufig tragen sie ihre Streitigkeiten mit Gewalt aus, und wechselnde Propheten geben ihr Möglichstes, die Menschen von dem Gedanken abzubringen, dass das Leben vielleicht mehr bereithalten könnte als Krieg oder leere Versprechen.
    Geschichten über Magie und jene, die sie wirken, hat man ins Reich der Phantasie verbannt. Statt zu Stürmen und Fluten zu beten, beginnt man sie zu erklären und im Leid Gerechtigkeit zu suchen. Die meisten Menschen haben diesen Wandel willkommen geheißen, bald aber gemerkt, dass er sie weder glücklicher noch reicher macht; und Misstrauen hat sie entzweit.
    Aus all diesen Gründen hätte sich April dem Fremden auf der anderen Seite des Zauns vielleicht besser nicht genähert. Sie hat aber nie an diese neue, erklärbare, gerechte und misstrauische Welt geglaubt. Sie hat immer eine andere Wahrheit gekannt, und ihre Lehrer waren Träume und Pein.
    Fealvkind – so rufen sie die anderen Kinder, bis Tränen oder Zorn die Oberhand gewinnen. Sie fragen: Sehen deine Augen in der Nacht? Die meisten von ihnen wissen nicht einmal, wovon sie sprechen. So lange sie denken kann, hat sich nie ein echter Fealv nach Gabors Furt verirrt, und die meisten ihrer mutmaßlichen Kinder entpuppen sich früher oder später als das Ergebnis von Seitensprüngen, die ihre Eltern in große Erklärungsnot bringen – vielleicht haben sie deshalb ihre Kinder gelehrt, ein Auge auf alles zu halten, was aus ihrer Mitte heraussticht.
    Und April sticht heraus. Sie ist ein blasses Kind mit strohblondem Haar und Augen, so hell wie die Steine im Fluss (später werden sie einen warmen Bernsteinton annehmen, und ihr Haar die Farbe von Sommerweizen). Vor allem aber weiß sie manchmal Dinge, die sie nicht wissen sollte: Ihre Sinne, so scheint es, leisten geradezu Unheimliches, ganz als ob die alte Redensart von den Sehenden Augen nur für sie erfunden worden wäre.
    Der Fremde auf der anderen Seite des Zauns ist groß und gehört eindeutig nicht hierher. Wie ein seltenes Tier schreitet er aus dem Schilf auf die schneebedeckte Wiese hinaus und schaut sich um. Er hat sie noch nicht bemerkt. Er richtet seinen dreieckigen Hut und sein nachtblaues Gewand; und auf wunderbare Weise fühlt er sich ganz an. Etwas an ihm ist auf grundlegende Weise anders als bei allen anderen Menschen, die sie kennt.
    Es ist, als erblicke sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine neue Farbe und könnte nun mit dem Finger darauf zeigen und sagen: Das ist es – das ist, was ich mein ganzes Leben lang vermisst habe! Einen kurzen Moment wird ihr schwindlig. Sie hätte das niemals für möglich gehalten.
    Mittlerweile hat er sie entdeckt und geht die letzten Schritte durch das nachlassende Schneegestöber auf sie zu. Nur der Zaun mit seinem weißen Überzug wie Zuckerhüte trennt sie jetzt noch.
    »Hallo«, grüßt er sie. »Wie geht es dir?« Er sieht sich um, schüchtern, verunsichert,
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