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Die falsche Frau

Die falsche Frau

Titel: Die falsche Frau
Autoren: Katrin Mackowski
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    K URZ VOR SECHS hatte der Zug sein Tempo verlangsamt und fuhr durch die Wiener Vororte.
    François Satek schlief noch.
    Er lag in Parka und Schal eingewickelt unter einer Wolldecke. Nur sein kahl geschorener Kopf, boule à zéro, die Tonsur, die er seit seiner Zeit als Rekrut trug, lugte hervor, als der Schaffner Licht machte und ihn zum Aufstehen aufforderte.
    »Wenn sich der Herr bitte beeilen würde! Pass und Billett zurück. Wir wären gleich da.«
    Kaiserschmarrngerede. Der typisch wienerische Singsang.
    François seufzte, steckte gelangweilt seine Dokumente ein und schnitt dem Mann, der ihm längst den Rücken gekehrt hatte, eine wilde Grimasse. Dann studierte er das Schwarze, das er unter einem Fingernagel hervorgeholt hatte, schnipste den schwarzen Krümel weg und schlug die Decke zurück.
    Süßsaures lag ihm auf der Zunge. Katergeschmack.
    Er dachte an die kleine Yvonne, die Tochter seines Cousins. Wie sie ihm gestern am Bahnsteig in Paris die Arme eng um seinen Hals geschlungen und zwei Küsse auf die Wange gedrückt hatte. Wie er vor Traurigkeit reglos geblieben war und nur ein langsames Lächeln hervorbringen konnte.
    Yvonne trug zum Abschied ihre schwarzen Lackschuhe. Sie waren zusammen in einem teuren Kindermodengeschäft in der Nähe vom Centre Pompidou gewesen, und sie hatte sich für ein Paar entschieden, auf dem große Glitzersterne funkelten.
    Hinterher Disneyland. Wie jeden letzten Samstag im Monat.
    Zwischen Mickey Mouse in Überlebensgröße und der sprechenden Mülltonne im Electric Umbrella Restaurant hatte er fast die Zeit vergessen. Seine Erinnerungen waren für eine Weile wie gelöscht. Erst auf der Zugfahrt, im Halbschlaf, kamen sie verschwommen wieder, wollten aber kein vernünftiges Muster ergeben.
    Yvonne im Kettenkarussell, Beine baumelnd, freihändig. Yvonne, eine schwebende Welt, zu der Kirmesmusik spielte.
    Jetzt war alles schal.
     
    »Wien-Westbahnhof«, tönte es aus dem Lautsprecher.
    Mit einem letzten Rest Whisky spülte François den blechernen Ton runter, warf die Flasche in das Bett gegenüber und sah sich nach seinen Boots um.
    Noch vor einem Jahr war er Scharfschützen-Sergeant gewesen, und so erfolgreich, dass man ihn zum Ausbilder befördert hatte. Wie viele andere in der Fremdenlegion hatte er die Lust am Krieg längst verloren, verpflichtete sich für die nächsten zwei Einsätze und stieg danach aus. Paris lockte. Ein neues, ruhiges Leben außerhalb der Soldatenfamilie, ein Leben, das er sich mit seinem besten Freund Katzan erträumt hatte und für das sie beide, wie sich bald herausstellte, nicht taugten.
    François unterrichtete Savate, eine französische Variante des Kickboxens, und langweilte sich mit arbeitslosen Jugendlichen, die er für den Kleinkrieg auf der Straße trainierte. Katzan versuchte als verdeckter Ermittler bei der Drogenfahndung unterzukommen, war aber schon nach dem ersten Auftrag als Bodyguard eines Nachtclubbesitzers so frustriert, dass er sich nebenbei mit Privatgeschäften im Milieu durchschlug. Sein Leben in Paris war zuende noch bevor es richtig begonnen hatte. Verfolgt von Killern der Drogenkartelle, wechselte er ständig seinen Wohnsitz und ließ sich von einer Bürokratie zermürben, die V-Männer zwar brauchte, aber weder finanzielle noch rechtliche Absicherung bieten konnte.
     
    Das Leben draußen war Betrug, eine riesengroße Falle.
     
    François und Katzan.
    Sie hatten Jahre am Arsch der Welt verbracht. Sie hatten dieselbe Scheiße gefressen und Le Boudin, das Marschlied der Legion, gesungen. Sie hatten sich nach Liebe gesehnt und sich selbst im Schlaf mit beiden Armen so fest umschlungen, dass die Arme am Morgen noch ganz steif davon waren.
     
    Vor drei Tagen war François’ Vater auf dem Zentralfriedhof von Wien beigesetzt worden. Krebs, hatten ihm die Behörden mitgeteilt. Wer sich denn um die Wohnung kümmern würde, um seine persönlichen Dinge?
    François schluckte. Die Trauer kam unerwartet.
    Ohne Katzan, der Andeutungen über einen wichtigen Auftrag in Wien gemacht hatte, wäre er gar nicht hier.
    Das Gesicht an die Scheibe gelehnt, zogen langsam Straßenlampen und Elektroleitungen vorbei.
    Der Kontakt nach Hause war abgebrochen, seit er von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent gezogen war. Er konnte sich nicht entsinnen, während der Einsätze oder später in Paris auch nur ein einziges Mal an seinen Vater gedacht zu haben. An seinen Vater, der von ihm keine Notiz nahm und sich nur blicken ließ, um seine Kleider
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