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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein
Autoren: Mayer Gina
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    Sie stand manchmal mitten in der Nacht auf, schlüpfte aus ihrem Zelt und schlich durch den Zirkus. Leise ging sie an den Zelten vorbei, in denen die anderen schliefen. Sie hörte Josef schnarchen und Direktor Lombardi im Schlaf sprechen und Domenica und Pito streiten. Sie stritten, weil Pito Domenicas Meinung nach zu viel trank und weil Domenica Pitos Meinung nach zu viel meckerte. Oder aus irgendeinem anderen Grund.
    Im Sommer lief sie mit nackten Füßen über die kühle Erde und das zertrampelte Gras. Im Winter zog sie Schuhe an, aber keine Strümpfe. Sie hatte stets dasselbe Ziel. Die Menagerie hinter dem Hauptzelt.
    Die Tiere waren immer wach, wenn sie kam. Es war, als warteten sie auf sie, aber natürlich stimmte das nicht. Sie waren wach, weil sie Nachttiere waren.
    Sie ging von links nach rechts an den Käfigen vorbei, und die Blicke der Tiere folgten ihr. Der Wolf mit seinen gelben Augen. Die kahle Wildkatze. Die fette Eule, die seit 1897 in der Menagerie lebte, fast so lange, wie Madame Argent beim Zirkus war.
    Vor dem letzten Käfig blieb sie stehen.
    Im Gegensatz zu den anderen Tieren beachtete sie der kleine Schneefuchs nicht. Er lag zusammengerollt da und leckte seine Schwanzspitze oder starrte auf seine Vorderpfoten. Sie atmete den scharfen Fuchsgeruch ein, den die Besucher tagsüber so abscheulich fanden, dass sie die Gesichter verzogen und sich die Nasen zuhielten.
    Vor zwei Jahren hatte Direktor Lombardi den Schneefuchs einem anderen Wanderzirkus abgekauft. Voller Ungeziefer und Dreck war das Tier gewesen, als sie es in den Zirkus gebracht hatten, an einem der Hinterbeine hatte es einen tiefen eiternden Riss, den Esmeralda behandelt hatte. Es hatte sehr lange gedauert, bis die Wunde verheilt war.
    Damals hatten Madame Argents nächtliche Wanderungen begonnen.
    Sie wachte auf und ging los, ohne darüber nachzudenken, wohin sie ging, warum sie überhaupt losging. Es war wie Schlafwandeln und auch wieder nicht, denn am nächsten Morgen erinnerte sie sich ganz genau an alles. Sie wusste auch, dass sie bald wieder aufstehen und losgehen würde.
    Als Maria im Zirkus auftauchte, sah Madame Argent sie zuerst vor dem Käfig des Schneefuchses. Das war natürlich kein Zufall. Es gab keine Zufälle. Alles was geschah, hatte einen Sinn.
    In manchen Nächten verlor sie sich selbst vollkommen, dann war sie plötzlich der Fuchs und lag hinter den Gitterstäben, und er war ein Mensch und betrachtete sie.
    Warum berührte der Schneefuchs sie so? Darauf wusste sie keine Antwort.
    Vielleicht war es seine Einsamkeit. Vielleicht waren es die vielen Wunden, die Esmeralda nicht behandelt und geheilt hatte, weil er sie verborgen in seinem Inneren trug. Vielleicht war es die Kälte, aus der er kam und sie auch.
    Oft blieb sie nur wenige Minuten vor dem Käfig stehen, manchmal mehr als eine Stunde. Sie wartete immer so lange, bis der Schneefuchs den Kopf hob und ihrem Blick begegnete.
    Erst dann ging sie wieder zurück in ihr Zelt.

Erstes Kapitel
    I.
    Ihr Vater war der stärkste Mann der Welt. In der Mitte der Manege stellte er sich auf, breitbeinig. Dann ging er in die Knie, atmete ein und packte gleichzeitig die Metallstange, an deren Enden die schweren runden Scheiben steckten. Ausatmend stemmte er sie hoch, bis weit über seinen Kopf, und während die Leute jubelten und applaudierten, schien es plötzlich, als ob er die Stange nicht mehr festhielt, sondern sein großer, kräftiger Körper vielmehr von den Gewichten nach oben gezogen wurde. Es sah aus, als ob er an der Stange hing, zuerst mit beiden Händen und dann mit einer. Er lächelte dabei, aber an seinen Schläfen traten die Adern hervor wie blaue Würmer. »Wer wagt es, gegen mich anzutreten?«, brüllte er ins Publikum, nachdem die Gewichte mit dumpfem Aufprall wieder auf den Sägespänen gelandet waren. »Einhundert Mark für den, der mich besiegt.« Aber es meldete sich nie jemand. Auf der ganzen Welt war keiner so stark wie er.
    »Einmal eins bis drei?« Die laute Stimme der Kassiererin riss Mira aus ihrer Träumerei. Sie löste ihren Blick von dem Kinoplakat, das in grellen Farben einen Zirkusfilm ankündigte, und trat vor den Schalter.
    »Platz 16«, sagte die Dame, obwohl Mira noch gar nicht geantwortet hatte. Sie reichte ihr ein hellgrünes Pappkärtchen durch das Fenster.
    Mira gab ihr fünf Groschen. Für fünfzig Pfennige bekam man im Düsseldorfer Odeon-Theater auf der Martinstraße einen Sitzplatz. Es war natürlich kein Logenplatz, sondern nur
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