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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein
Autoren: Mayer Gina
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tiefe Weite. Dann tauchten mitten in der Leere wieder die Manege auf und der kräftige, große Mann, der seine Gewichtsstange vor sich in die Sägespäne warf. »Wer wagt es, gegen mich anzutreten?« Niemand wagt es, dachte Mira. Weil du ein Gespenst bist. Danach zerfloss das Bild ihres Vaters in der Dunkelheit.

II.
    An der höchsten Stelle konnte man weit über den Rhein sehen, auf die Wiesen am anderen Ufer, auf den Damm und die Häuser von Oberkassel. Mira hob das Gesicht und blickte in den Himmel über ihr. Um sie herum war nur glasklare, blaue Luft, dann kippte der kleine Waggon nach vorn. Ihr Körper sackte nach unten, ihr Magen schien dagegen nach oben zu fliegen. Sie sah, wie sich Gudruns dunkle Haare aus der Tolle lösten, zu der sie sie zusammengesteckt hatte, wie sie über ihr flatterten, als wollten sie weg von ihr. Sie sah Gudruns Hände, die sich in ihrem Schoß um ihren Hut krampften, ihren offenen Mund, aber ihre Schreie verloren sich in dem Kreischen und Johlen der übrigen Fahrgäste.
    Mira selbst schrie nicht, sie sog die Luft ein, die ihr entgegenströmte, während ihr Waggon in die Tiefe fiel, während der Boden ihnen entgegenraste und die Holzschienen der Berg- und Talbahn knatterten und dröhnten. Kaum waren sie unten angekommen, waren sie auch schon wieder auf dem Weg nach oben, zuerst sehr schnell und dann immer langsamer, bis der Zenit erreicht war und sie erneut nach unten stürzten. Mira schloss die Augen, sie flog in den weiten blauen Himmel, in den glitzernden Fluss, in die grünen Wiesen. Sie war schwerelos. Sie war glücklich. Sie war so lebendig wie noch nie in ihrem Leben.
    Mira und Gudrun hatten den ganzen Nachmittag auf der Gesolei verbracht. Gesolei, das stand für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen. Eine riesige Ausstellung, die seit Mai 1926 in zahllosen Hallen am Rheinufer präsentiert wurde. Es war die aufwendigste und prächtigste Ausstellung, die jemals in Düsseldorf stattgefunden hatte. Allein die Gebäude, die dafür errichtet worden waren – der Kunstpalast im Ehrenhof, davor das Planetarium. Und natürlich die Rheinterrasse, wo Mira seit zwei Monaten als Serviermädchen arbeitete.
    Obwohl sie nun schon seit vier Monaten Tag für Tag die hungrigen und durstigen Ausstellungsbesucher bediente, hatte Mira die Schau heute zum ersten Mal gesehen. Gudrun hatte sie durch sämtliche Ausstellungshallen geschleppt, ins Haus Henkel, in die Halle für Luftfahrt, in den Pavillon der deutschen Bäder, ins Haus der Stadt Düsseldorf und in zahlreiche andere Gebäude, die Mira vergessen hatte, kaum dass sie sie wieder verlassen hatten. Zum Schluss hatten sie sich ein Billet für die Berg- und Talbahn gekauft. Das war das Beste von allem.
    »Noch einmal«, sagte Mira zu Gudrun, als sie mit weichen Knien aus dem Waggon stiegen. »Lass uns noch einmal fahren!«
    »Bist du verrückt?«, Gudruns Stimme überschlug sich fast. »Keine zehn Pferde kriegen mich mehr in diese Höllenmaschine. Ich dachte, mein letztes Stündchen hätte geschlagen.«
    »Wenn Sie einen Beifahrer suchen, würde ich mich gerne zur Verfügung stellen«, hörten sie eine Männerstimme hinter sich. Ihre Köpfe schnellten in einer fast synchronen, spiegelverkehrten Bewegung herum. Ein steifer schwarzer Hut, darunter lachende Augen, ein schmaler Schnurrbart. Ihre Gesichter fuhren wieder nach vorn. »Nichts für ungut«, rief der Fremde. »Ich wollte Sie gewiss nicht erschrecken.«
    »Wo denken Sie hin!«, gab Gudrun spitz zurück. »So leicht fürchten wir uns nicht. Und danke für das Angebot, aber wir haben keinen Bedarf.«
    Der Mann lachte. »Es galt ja gar nicht Ihnen, sondern Ihrer Freundin.«
    Mira hakte Gudrun unter und beschleunigte gleichzeitig ihre Schritte.
    »Nun, ihr geht es nicht anders als mir, sie verzichtet dankend«, sagte Gudrun, ohne sich dabei umzudrehen. Auch sie ging jetzt schneller, aber nur, weil Mira sie zog.
    »Das arme Ding«, hörten sie den Herrn spotten. Er war wohl stehen geblieben, seine Stimme kam jetzt aus einiger Entfernung. »So jung und stumm. Es ist ein Jammer.«
    Mira spürte, dass sie rot wurde. Sie hätte so gerne etwas entgegnet, etwas Freches, Unverschämtes, wie es Gudrun immereinfiel. Ehe sie richtig darüber nachdachte, was sie tat, drehte sie sich um. Der junge Mann war ihr näher, als sie es erwartet hatte. Die roten Lippen unter dem dünnen Strich des Schnurrbartes grinsten sie erwartungsvoll an. Sie merkte, wie ihr Gesicht noch heißer wurde, aber
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