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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein
Autoren: Mayer Gina
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ein Holzsitz in einer der ersten drei Reihen, der automatisch hochklappte, wenn man aufstand. Aber immerhin ein Sitzplatz. In den großen Lichtspielhäusern auf der Graf-Adolf-Straßekostete seit Anfang des Jahres 1926 bereits ein Stehplatz fünf Groschen.
    An den Wänden des Saals verstrahlten kunstvoll verschnörkelte Glaslampen gelbes Licht. Der rote Vorhang vor der Leinwand hatte sich bereits geöffnet. Als Mira ihren Platz fast erreicht hatte, gingen die Lampen aus. Einen Moment lang stand sie in vollkommener Dunkelheit, bis ein paar kleine Notleuchten angingen. Wie so oft überlegte sie, ob es irgendjemanden auffallen würde, wenn sie sich auf einen der weichen Samtsessel setzen würde. Die Platzanweiserin stand immer noch oben am Eingang und konnte sie in der Dunkelheit unmöglich sehen. Aber dann tastete sich Mira doch nach vorn zu den Holzsitzen.
    Sie ging jede Woche ins Odeon. Es war natürlich ungeheuerlich, wenn man bedachte, wie viel Geld sie dafür ausgab. Sie nahm sich auch jeden Montag vor, dass sie sich den Eintritt diese Woche sparen oder für etwas Sinnvolles ausgeben wollte, und manchmal schaffte sie es auch, bis zum Mittwoch durchzuhalten. Mitunter ging sie auch am Donnerstag noch nicht hin. Aber spätestens am Freitag gab sie alle guten Vorsätze auf und schob ihre fünfzig Pfennige durch das Kassenfenster. Es war eine heimliche Sucht.
    Was die Filme anging, war sie nicht wählerisch. Sie sah Liebesfilme, Abenteuerfilme, Filme mit richtigen Schauspielern und Zeichentrickfiguren, Anspruchsvolles und Seichtes, Trauriges und Komisches. Sie schaute sich an, was gerade lief. Meistens kannte sie nicht einmal den Titel des Films, wenn sie sich auf dem dünnen Holzsitz niederließ.
    Am liebsten kam sie allein hierher. Sie tauchte ein in das schwarz-weiß-graue Flimmern, und nach einer Stunde oder zwei tauchte sie wieder auf, aber sie wollte nie darüber reden, was sie erlebt hatte. Sie wollte auch nichts über die Schauspieler wissen, wie sie im wirklichen Leben waren, wen sie liebten, wo sie lebten. Wenn man zu viel wusste, verlor sich die Illusion, fand Mira.
    Man kannte Mira im Odeon, selbst der alte Pianist, der die Filme auf dem leicht verstimmten Klavier begleitete, begrüßtesie mit einem leichten Nicken, wenn sich ihre Blicke begegneten, aber ansonsten wechselten sie nie ein Wort.
    Mira schloss die Augen, lehnte den Rücken an die harte, blank geriebene Lehne und atmete den vertrauten Kinogeruch ein. Diese Luft! Im Sommer zu warm, im Winter zu kalt, immer ein bisschen staubig. Neben ihr raschelte eine Papiertüte. Zigarettenrauch zog an ihr vorbei. Vor ihren geschlossenen Lidern erschien wieder ihr Vater, er ging in die Knie, um die Gewichtstange aufzuheben. Dann begann das Bild zu flackern. Mira machte die Augen wieder auf. Der Film begann.
     
    Sie summte die Melodie, die der alte Pianist auf dem verstimmten Klavier gespielt hatte, während der kleine Mann mit dem schwarzen Schnurrbart auf der Leinwand zwei Brötchen tanzen ließ.
Damtatadamtadam .
Im Residenz-Theater und im Asta-Nielsen begleitete eine richtige Kapelle mit Streichern, Bläsern und einem Schlagzeug die Filmvorführungen. Im Odeon-Theater auf der Martinstraße war es nur ein einzelner Pianist. Es gab nicht einmal eine Kinoorgel, dafür war der Eintritt so billig.
Damtatadamtadam.
Auf dem schadhaften Pflaster glänzte eine Pfütze. Mira machte ein paar schnelle Schritte darum herum und fühlte sich dabei selbst leicht und schwerelos wie eine Tänzerin.
Damtatadamtadam .
Es war Juli; die Nacht stieg langsam von unten nach oben. Während es auf den Straßen schon dunkel war, zeichneten sich die Dächer noch klar und deutlich gegen den tiefblauen Abendhimmel ab.
    Als sie auf die Bilker Allee einbog, gingen gerade die Straßenlaternen an, von einer Sekunde zur anderen verbreiteten sie ihr kaltes, weißgelbes Licht. Mira überquerte die Straße und ging nach rechts in die Friedenstraße. Ihr Schatten tauchte vor ihr auf und wanderte dann an ihr vorbei, als führte er ein Eigenleben. Immer wenn sie eine Laterne erreicht hatte, zerfloss er unter ihren Füßen, aber wenn sie weiterging, erschien er wieder vor ihr, klar und scharf definiert auf dem beleuchteten Pflaster.
    Vielleicht war es dieses seltsam eigenwillige Schattenspiel, vielleicht war es die Finsternis, die sich hinter den Lichtkreisender Straßenlaternen dicht und feindselig zusammenballte – auf jeden Fall verlor sich die Schwerelosigkeit, die sie soeben noch gespürt
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