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Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman

Titel: Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Autoren: Annette John
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1. Kapitel
    E s war ein schon später Nachmittag, als die alte Vettel Jovinda den Unterricht für beendet erklärte. »Alte Vettel« war der Hassname, mit dem die Kinder Jovinda belegten, und heute hatte die Alte ihn redlich verdient, fand Lulu. Sie wusste nicht, was eine Vettel war, und sie war sich ziemlich sicher, dass ihre beiden Mitschüler und Leidensgenossen es ebenfalls nicht wussten. Aber alte Vettel klang gut. Schön böse. Es klang nach Fett, Falten, Schmutz und anderen unappetitlichen Dingen. Passend für Jovinda, die sie den ganzen langen Tag gequält hatte mit dem langweiligsten aller Unterrichtsstoffe: Genealogie oder Stammeskunde, die Geschichte der großen Hexenfamilien.
    Eigentlich hatte Lulu sich auf dieses Fach gefreut, sie hatte geglaubt, etwas darüber zu erfahren, wie die Hexen und ihre Kinder in den vergangenen Jahrhunderten gelebt hatten. Aber bei Jovinda klang das so: »Und Tavinia gebar Loren. Und Loren gebar Wieken und Salen und Tavinia-Nina. Und Tavinia-Nina gebar Einar, Wineta und Nassia. Und Wineta gebar Sandrina, doch Nassia hatte keine Kinder. Und Sandrina gebar …«
    So ging es weiter und weiter und weiter. Stundenlang saßen sie in Jovindas stickiger Stube und wiederholten im schläfrigen Singsang endlose Reihen von Namen, die der Hexenmütter, Hexentöchter, Hexensöhne, während Jovinda mit ihrer Krücke den Takt dazu auf den Boden klopfte und wie ein Schießhund aufpasste, dass sich keiner ihrer Schüler versprach. Geschah es doch einmal, so wandte sie sich mit einer Blitzesschnelle, die niemand ihrem schwerfälligen Körper zugetraut hätte, dem Unglücksraben zu und zwickte ihn mit scharfen Fingernägeln ins Ohr, was höllisch wehtat, und alle mussten wieder von vorne beginnen. Den kleinen Colin hatte es heute schon viermal getroffen, sein rechtes Ohr leuchtete wie eine Laterne. Er konnte kaum noch die Tränen zurückhalten, schniefte und wischte sich ständig mit dem Handrücken glänzende Tropfen von der Nasenspitze.
    Vettel, dachte Lulu hasserfüllt, widerliche, alte Vettel! Doch sie schlug die Augen nieder und machte ein Gesicht wie ein Engel, denn sie fühlte Jovindas harten, wässrigen Blick auf sich.
    »Schluss für heute«, verkündete Jovinda. »Colin und Bertha können gehen. Ludovica, du bleibst noch hier. Ich habe mit dir zu reden!«
    Mist! Lulu sank in sich zusammen. Colin und Bertha schossen von ihren Stühlen hoch, flitzten, ohne einen Blick auf die unglückliche Lulu zu riskieren, aus der Stube, aus dem Haus, und erst als sie über den Hof und den äußeren Ring hinaus und in Sicherheit waren, hielten sie kurz inne, drehten sich um, riefen ein dünnes »Wiedersehen, Madame Jovinda!«, und verschwanden kreischend vor Erleichterung im Schatten der hohen Bäume.
    In der Stube wurde es sehr still. Die Wanduhr seufzte. Evchen, Jovindas fette Katze, sprang mit einem lautlosen Satz auf den Tisch, blieb mit zuckendem, hoch erhobenem Schwanz stehen und starrte Lulu unverwandt an. Jovinda sah zum Fenster hinaus, in die Richtung, in die ihre beiden Schüler verschwunden waren. Endlich drehte sie sich um und stampfte unwillig mit ihrer Krücke auf den Boden.
    »Keine Manieren«, schimpfte sie. »Diese beiden haben keine Manieren. Aber ich nehme es ihnen nicht übel. Sie sind Bauernkinder, von ihren Eltern hergeschickt, damit sie ein paar Zaubersprüche lernen für den Garten und das Feld und vielleicht, um hin und wieder ein krankes Stück Vieh zu kurieren.«
    Und was sie wirklich lernen, sind sinnlose Reihen von Namen und wie man es anstellt, vor Langeweile nicht zu sterben, dachte Lulu.
    »Evchen kann deine Gedanken hören«, sagte Jovinda.
    Lulu erschrak. Evchen setzte sich und begann, hektisch ihr Brustfell zu lecken. Lulu wollte nicht glauben, was Jovinda gesagt hatte, allerdings benahm Evchen sich genau so, wie Katzen sich benehmen, wenn sie bei etwas ertappt worden sind.
    »Vettel«, sagte Jovinda, »ist eine verächtliche Bezeichnung für eine alte Frau. Heißt so viel wie liederliches, schlampiges, schmutziges, altes Weib.«
    Dann war ich ja nah dran, dachte Lulu trotzig.
    Wieder stampfte die Krücke auf den Boden. »Ich bin eine Hexe und keine schlechte. Glaubst du, ich könnte nicht, wenn ich wollte, genauso schön und jung aussehen wie deine Mutter? Ja, deine Mutter, die schöne, ewig junge Graviata. Ich weiß, wie alt sie wirklich ist, sogar ziemlich genau. Doch das ganze Land, selbst der Palast liegt ihr zu Füßen, weil sie keinen Tag älter als zwanzig
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