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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein
Autoren: Mayer Gina
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auswendig zu lernen. »Ich kann es mir nicht behalten«, erklärte sie dem Kaplan bedauernd, wenn er sie wieder einmal abfragte. »Was bewirkt die helfende Gnade?« »Gott erleuchtet durch die helfende Gnade unseren Verstand und bewegt unseren Willen, dass wir das Böse meiden und das Gute tun.« Im Gegensatz zu Gudrun hatte Mira die Sätze immer gelernt. Sie hatte immer alles getan, was man von ihr verlangt hatte, weil sie wusste, dass das das Vernünftigste war. Aber Gudrun war stur geblieben, selbst als der Kaplan damit gedroht hatte, sie von der Heiligen Kommunion auszuschließen. Sie war aber am Ende doch zugelassen worden.
    Nach der Schule war Gudrun bei einem Damenschneider in die Lehre gegangen, gegen den Willen ihrer Eltern, die gewollt hatten, dass sie in ihrer Metzgerei Würste und Speck verkaufte. Die Lehrstelle hatte Gudrun sich selbst gesucht. »Das ist der Laden, in dem ich lernen werde«, hatte sie Mira erklärt, als sie auf dem Heimweg von der Schule an der Schneiderei vorbeigekommen waren.
    »Wann wurde das denn arrangiert?«, fragte Mira erstaunt.
    »Noch gar nicht.« Gudrun trat etwas unsicher von einem Fuß auf den anderen. Hinter den hohen Fenstern der Damenschneidereisahen sie ein Vorzimmer mit einem Ladentisch, dahinter stand eine ältere Frau, die ihrerseits zu Mira und Gudrun heraussah.
    »Ich werde jetzt hineingehen und mich vorstellen«, sagte Gudrun, und bevor Mira noch irgendetwas sagen konnte, hatte sie ihr schon ihre Schultasche in den Arm gedrückt und war im Laden.
    Mira sah sie lange mit der Frau reden, die immer wieder die Arme hob und den Kopf schüttelte, aber irgendwann trat sie hinter ihrem Ladentisch hervor und führte Gudrun in ein Hinterzimmer. Später kam sie allein zurück und stellte sich wieder hinter die Theke.
    Dann wartete Mira und wartete und wartete, doch Gudrun kam nicht wieder heraus. Sie wurde immer unruhiger und besorgter. Was war, wenn da hinten irgendein Unhold saß, der Gudrun etwas zu Leide tat? Und sie stand hier dumm und unnütz herum und kam ihrer Freundin nicht zu Hilfe. Du lieber Gott, hilf ihr, hilf mir, dachte sie, obwohl sie gar nicht an Gott glaubte.
    Ihre eigene Schultasche auf ihrem Rücken, Gudruns Schultasche in den Händen stand sie da und wartete so lange, bis die Glocken vom Dominikanerkloster halb zwei schlugen. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie legte die beiden Taschen neben dem Eingang ab und öffnete die Tür. Die kleine Glocke über ihr klingelte hell und feindselig. Mira war auf einmal sehr heiß. »Guten Tag«, sagte sie. Die Frau hinter der Theke war älter, als es von draußen ausgesehen hatte. Ihre grauen Haare waren zu einem Dutt gesteckt, ihr Gesicht wirkte müde und ungeduldig. »Kommst du jetzt auch noch und fällst uns auf die Nerven?«, fragte sie.
    »Nein.« Mira wäre am liebsten direkt wieder gegangen, doch dann dachte sie an Gudrun und das Ungeheuer und räusperte sich. »Ich wollte nur fragen …«
    Im selben Moment kam Gudrun aus dem Hinterzimmer, mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht und einem Blatt Papier in den Händen.
    »Das ist mein Lehrvertrag«, erklärte sie Mira, als sie wieder draußen auf der Straße waren. »Ich habe darauf bestanden, dass wir gleich alles aufschreiben, weil der Meister gar so widerwillig war und durchaus kein Lehrmädchen akzeptieren wollte.«
    »Wie hast du es denn dann geschafft, ihn zu überzeugen?«, fragte Mira.
    »Ich habe einfach geredet und geredet, bis er vor lauter Überdruss klein beigegeben hat.«
    Nach zwei Jahren kündigte sie die Stellung von einem Tag auf den anderen,
weil sie nun alles gelernt hätte, was man ihr hier beibringen konnte.
Sie arbeitete ein halbes Jahr in einem Salon auf der Königsallee, aber dann überwarf sie sich wegen einer Nichtigkeit so mit der Frau des Inhabers, dass sie auch diese Stellung aufkündigte. Danach hatte sie als Ladenmädchen bei Tietz angefangen. Und jetzt war auch das vorbei.
    Gudrun war immer verrückt gewesen, eigensinnig und impulsiv. Aber dieser Salon für die feine Dame, den sie jetzt gründen wollte, das war eine andere Sache. Das war vermessen – im wahrsten Sinne des Wortes: ein paar Kragenweiten zu groß für Gudrun. Und dieser Pressmann und sein Geld – wie konnte Gudrun sich nur auf ihn einlassen?
    Mira versuchte, ihre Gedanken von Gudrun fortzubewegen. Sie stellte sich vor, dass sie in einem dunklen, kühlen Meer schwamm, schwerelos und zufrieden. Sanfte Wellenbewegungen trugen sie weg vom Ufer, hinein in eine
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