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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um
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    E r wartete auf sie, als sie zur Arbeit kam. So schien es Jess jedenfalls, die ihn sofort sah. Er stand reglos an der Ecke California Avenue und 25. Straße. Sie spürte, daß er sie beobachtete, als sie aus der Parkgarage kam und über die Straße zum Administration Building lief. Seine dunklen Augen waren kälter als der Oktoberwind, der in seinem strähnigen hellen Haar spielte, seine bloßen Hände waren über den Taschen seiner abgetragenen braunen Lederjacke zu Fäusten geballt. Kannte sie ihn?
    Seine Haltung veränderte sich leicht, als Jess näherkam, und sie sah, daß sein voller Mund zu einem halben Lächeln verzogen war, bei dessen Anblick es sie kalt überlief; als wüßte er etwas, das sie nicht wußte. Es war ein Lächeln ganz ohne Wärme, das Lächeln eines Mannes, dem es als Kind Spaß gemacht hatte, Schmetterlingen die Flügel auszureißen, dachte sie schaudernd und ignorierte das kaum wahrnehmbare Kopfnicken, mit dem er sie grüßte, als ihre Blicke sich trafen. Ein Lächeln voller Geheimnisse, begriff sie. Sie wandte sich hastig ab und hatte plötzlich Angst, als sie die Treppe hinauflief.
    Sie spürte, wie der Mann hinter ihr sich in Bewegung setzte, wußte, ohne sich umzusehen, daß er hinter ihr die Treppe hinaufging. Als sie oben ihre Schulter gegen die schwere Drehtür aus Glas drückte, sah sie, daß der Fremde auf der obersten Stufe stehengeblieben war. Sein Gesicht spiegelte sich in den rotierenden Glasflächen, erschien, verschwand und erschien von neuem, und das wissende Lächeln wich nicht von seinen Lippen.
    Ich bin der Tod, hauchte das Lächeln. Ich bin gekommen, dich zu holen.

    Jess hörte sich nach Luft schnappen und merkte am Füßescharren hinter sich, daß sie die Aufmerksamkeit eines der Wächter auf sich gezogen hatte. Mit einem Ruck drehte sie sich herum und sah dem Mann entgegen, der sich ihr vorsichtig näherte und dabei zum Holster seiner Dienstwaffe griff.
    »Stimmt was nicht?« fragte er.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Jess. »Da draußen ist ein Mann, der -« Der was? fragte sie sich stumm, während sie dem Wächter in die müden blauen Augen sah. Der ins Warme möchte, weil es draußen so kalt ist? Der ein Grinsen hat, daß man Gänsehaut bekommt? War das in Cook County neuerdings ein Verbrechen? Der Wächter sah an ihr vorbei zur Tür, und sie folgte mit den Augen langsam seinem Blick. Dort war niemand.
    »Ich seh anscheinend Gespenster«, sagte Jess entschuldigend und fragte sich, ob das zutreffe, war froh, daß der junge Mann, wer immer er sein mochte, fort war.
    »So was kann schon mal vorkommen«, sagte der Wächter und ließ sich Jess’ Ausweis zeigen, obwohl er wußte, wer sie war. Dann winkte er sie durch den Metalldetektor, wie er das seit vier Jahren jeden Morgen gewohnheitsmäßig tat.
    Jess mochte feste Gewohnheiten. Sie stand jeden Morgen Punkt Viertel vor sieben auf und zog nach einer hastigen Morgentoilette die Sachen an, die sie am Abend zuvor sorgfältig zurechtgelegt hatte. Zum Frühstück schlang sie ein gefrorenes Stück Kuchen direkt aus der Tiefkühltruhe hinunter und saß eine Stunde später vor ihrem aufgeschlagenen Terminkalender und ihren Akten am Schreibtisch. Wenn sie gerade an einem Fall arbeitete, gab es immer etwas mit ihren Mitarbeitern zu besprechen, Strategien mußten entworfen, Fragen formuliert, Antworten abgestimmt werden. (Eine gute Staatsanwältin stellte niemals eine Frage, auf die sie die Antwort nicht schon wußte.) Wenn sie sich auf einen bevorstehenden Prozeß vorbereitete, galt es, Informationen zu sammeln, Spuren nachzugehen,
Zeugen zu vernehmen, mit Polizeibeamten zu sprechen, Konferenzen abzuhalten, Pläne zu koordinieren. Alles mußte klappen wie am Schnürchen. Jess Koster liebte Überraschungen im Gerichtssaal so wenig wie außerhalb.
    Hatte sie sich von dem vor ihr liegenden Tag ein vollständiges Bild gemacht, so pflegte sie bei einer Tasse schwarzen Kaffee und einem Krapfen eine kleine Pause einzulegen, um die Morgenzeitung zu lesen. Mit den Todesanzeigen fing sie an. Immer las sie zuerst die Todesanzeigen. Ashcroft, Pauline, im Alter von siebenundsechzig Jahren ganz plötzlich verstorben; Barrett, Ronald, neunundsiebzig Jahre alt, nach längerer Krankheit friedlich entschlafen; Black, Matthew, geliebter Ehemann und Vater... statt Kränzen Spenden an die Herzforschung von Amerika . Jess wußte selbst nicht mehr, wann sie angefangen hatte, die Todesanzeigen zur Routinelektüre zu machen, und sie wußte auch
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