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Die falsche Frau

Die falsche Frau

Titel: Die falsche Frau
Autoren: Katrin Mackowski
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kindlichen Lachen, ihren runden Schultern. Er glaubte sie zu kennen, das war ein Fehler.
    Menschen waren zu allem fähig, auch Claire, dachte François und sah auf seine Uhr. Das Gewicht jeder einzelnen Sekunde, die verstrich, ohne dass er selbst etwas bewegen oder machen konnte, lastete auf ihm. Wochen, Tage, Stunden und Minuten, seit er Claire nicht mehr gesehen hatte.
    Am Ende der Straße lockte das Casino.
    Das Glück, ein Mann mit Zylinder, winkte.
    François überlegte, ob er Black Jack spielen gehen sollte oder wenigstens eine Runde Roulette, aber er konnte nicht. Es war zu früh, um spielen zu gehen, zu früh, um das Glück zu versuchen.
    Er lief weiter. Zuerst gedankenlos. Dann jedoch, Meter für Meter, steigerte er sich in die Vorstellung, Claire umgebracht und ihre Leiche an einen sicheren Ort gebracht zu haben. Gleichzeitig kam er sich vor wie ein erbärmlicher Versager, unfähig, eine Frau wie Claire lieben zu können, geschweige denn, sie in den Tod zu schicken.
    Früher oder später, dachte er, gäbe es eine Erklärung. Es gab doch für alles eine Erklärung.
    Vor dem Hotel Bristol, einen schmalen Strich Wind im Gesicht, wählte er Katzans Nummer. Das Rufzeichen kam vier Mal.
    »Hallo?«
    Die Leitung war schlecht.
    »Hörst du mich?«
    François verstand nur Wortfetzen.
    »Behörden. Schwimmende Depots. Nicht am Telefon«, sagte Katzan. Er würde ihn besuchen kommen, heute noch.
     
    Von da an ging François automatisch richtig.
    Der Karlsplatz kam ihm vertraut vor. Er wusste, dass er genau hier vor der Rolltreppe gelungert und vor den Toiletten geschlafen hatte, manchmal auch in einem dieser Häuschen, in denen man Passbilder machen lassen kann. Andere Tage verbrachten sie im Suff, kauernd vor Kaufhäusern, in irgendeinem geschützten Winkel, der Wärme abgab, während irgendeine Zeit verstrich.
     
    François und Katzan.
    Von jeher waren sie Brüder gewesen, ihre Freundschaft ein festes Bündnis, eine Art Gesetzmäßigkeit gegen den Rest der Welt.
     
    Wie in Trance stieg François in die U-Bahn.
    Im Schwarz des Schachtes fantasierte er die prachtvollen Jugendstilbauten der Wienzeile, die tiefen Straßenfluchten, das altehrwürdige Kopfsteinpflaster. Eine monströse Kulisse, die in ihm mit zunehmender Geschwindigkeit des Zuges zu einer dünnen, verschwommenen Linie wurde und wieder verschwand.
    Vielleicht würden ihm die Häuser jetzt kleiner erscheinen, die Gassen schmaler, dachte er, als er am Margaretengürtel umstieg und oben, im Tageslicht, sich verdoppelnde Menschen in Trainingsanzügen sah, kleine Hunde an der Leine haltend oder mit einem Plastiksack in der Hand. Vollkommen echt. Vollkommen unecht.
    François hatte das Gefühl, neben sich zu stehen.
    Er war irritiert, weil er bemerkte, dass der, der neben ihm stand, alles erlebte, was er erlebte, und alles sah, was er sah, aber doch nicht mit ihm identisch war.
    Später, als er die Straßenbahnlinie achtzehn nahm und das vertraute Grau der Gemeindebauten vorbeistrich, gab es ruhigere Momente, dazwischen aber attackierte ihn eine unbestimmte Angst.
    Angst, ausgelöst von elektrisch gestörten Lichterketten vor armseligen Gucklöchern, die wieder zuckend auf andere verwiesen, nie Grün vor der Tür, keine Aussicht.
    Und doch gab es etwas, das ihn wieder ins Lot brachte, selbst an diesem schwindelerregenden Tag.
    François war nie feige gewesen. Nicht wie Katzan, nie zögerlich.
    Sie hatten ihm beigebracht, wie man dreißig Kilo schwere Rucksäcke mit Stacheldrahtriemen fünfzig Kilometer weit schleppt. Sie hatten ihm gezeigt, wie man auf dem Kasernenhof Zigarettenkippen mit dem Mund aufliest und hinterher keine Miene verzieht. Wie man in der brütenden Hitze ein Taschentuch mit der Nase gegen eine Mauer drückt, ohne es zu verlieren oder vor Schwäche umzukippen. François hatte all diese Torturen überstanden und die Aufgaben ohne mit der Wimper zu zucken ausgeführt. Was konnte ihm das Leben noch anhaben?
     
    Oben, in der Wohnung seiner verstorbenen Eltern, das dumpfe Grollen der Stadt. Ein säuerlicher Geruch hing in der Luft.
    François riss alle Fenster auf.
    Der Geruch musste von den feuchten Wänden oder den Rosshaarmatratzen kommen. Er ging zuerst in die Küche und blieb vor einem schmutzverkrusteten Herd stehen.
    Hier also sollte er sich einnisten und das Leben eines Mannes führen, der regelmäßig arbeitete, sich mit Freunden traf und gelegentlich kochte?
    Die Schränke standen offen. Reste von vergorener Milch waren zu festen
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