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Wer schön sein will, muss sterben

Wer schön sein will, muss sterben

Titel: Wer schön sein will, muss sterben
Autoren: Michele Jaffe
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Prolog
    D as Bild ist grausam und dennoch schön.
    Es ist kurz vor Tagesanbruch, genau der Moment, in dem die Welt zweifarbig erscheint und alles in ein blaugraues Licht getaucht ist. Die Straßenlaternen sind aus, die Straße erscheint nur noch als graues Band. Im Hintergrund, verschwommen, die schattigen Umrisse großer Häuser, mit dunklen Streifen vom Regen. Im Vordergrund, leicht rechts, im blaugrauen Gras, steht ein zauberhafter Rosenstrauch. Fast märchenhaft, wie eine verwandelte Hexe, die die knotigen Finger gen Himmel reckt. Mitten darin liegt ein Mädchen.
    Fetzen ihres Tüllrocks hängen in den Zweigen, flattern im Morgenwind wie zarte Fähnchen. Ein Dekokaninchen, eine Ente, gefolgt von fünf winzigen Küken, und ein Eichhörnchen, das Flöte spielt, halten still bei ihr Wache. Eines ihrer Beine ist angewinkelt, das andere ragt aus dem Strauch heraus, ein Plateauschuh baumelt daran. Aschenputtel, nach dem traurigen Ende des Balls. Ihre linke Hand ist unter ihrem Körper verborgen, die rechte, mit einem Freundschaftsring am Zeigefinger, greift nach oben, wie um die einzelne tiefrote Rose zu pflücken, die über ihr hängt – der einzige Farbfleck im Bild. Ihr hübsches Gesicht ist fast gänzlich mit dunklen Haaren bedeckt. Ihr Körper ist mit üblen, klaffenden Wunden übersät, und dunkelrotes Blut sickert aus einer tiefen Wunde an ihrem Kopf. Ihre Lippen sind leicht geöffnet, als wollte sie gerade etwas sagen.
    Aber wenn man ihre Augen sieht, weiß man, dass es unmöglich ist. Sie sind weit aufgerissen, die Pupillen ganz geweitet. Und leer.

    Es sieht aus wie eines der Fotos, die ich für meine Serie ›Tote Prinzessinnen‹ gemacht habe, mit zwei entscheidenden Unterschieden:
    Das Mädchen auf dem Foto hätte tot sein sollen. Und: Ich habe das Foto nicht gemacht.
    Denn ich bin es. Ich bin das Mädchen.
    Die Polizei hat das Foto gemacht, nachdem Mrs Doyle sie angerufen und berichtet hatte, dass sie eine Leiche in ihrem Vorgarten in der Dove Street gefunden hätte. Sie trafen drei Minuten nach dem Anruf ein. Es dauerte fünf Minuten, um meine Atmung zu stabilisieren, und zweiunddreißig Minuten, um mich aus dem Strauch zu befreien.
    Als ich aufwachte, konnte ich mich nicht daran erinnern, wie ich dort hingekommen war oder was dazu geführt hatte, aber das ist anscheinend normal. Alles, an was ich mich erinnern konnte, waren Schmerzen und der Gedanke,
gib nicht auf
!
    Aber langsam kamen Bruchstücke zurück. Eine Intensivstation ist ein guter Ort, um gründlich nachzudenken – oder ein schlechter, je nachdem, über was man nachdenkt. Ich starre auf das Foto in meiner Hand und versuche, mich selbst als Objekt zu betrachten, einen weiteren Hinweis zu finden. In den vergangenen drei Tagen ist das Puzzle immer vollständiger geworden, und ich bin mir nicht sicher, ob mir das Bild gefällt, das entsteht.
    »Hallo Prinzessin«, ertönt eine fröhliche Stimme von meiner Zimmertür her.
    Ich blicke auf und sehe einen unbekannten Mann in OP -Kleidung hereinkommen. Ich vermisse Loretta.
    Loretta ist die Schwester auf der Intensivstation, an sie bin ich gewöhnt. Sie hatte Dienst, als ich zum ersten Mal die Augen öffnete, und obwohl ich nur drei Tage auf der Intensivstation war, kam es mir vor, als würden sie und ich uns schon gut kennen. Die Intensivstation hat ihre eigene Zeitrechnung und lässt ungewöhnliche Beziehungen entstehen.
    »Ach das – das ist Intensivstationszeit«, hatte Loretta mir erklärt.
    »Intensivstationszeit?«
    »Ist es nicht so, dass man sagt, dass Hunde in einem Jahr eigentlich um sieben Jahre altern? So ist es auch auf der Intensivstation: Jede Minute kommt einem wie eine Stunde vor. Entweder schleicht hier die Zeit, oder sie fliegt vorbei. Und glaub mir, Schätzchen, es ist besser für dich, wenn sie schleicht. Zeitsprünge bedeuten nie etwas Gutes.«
    Der Neue sagt jetzt: »Ich heiße Ruben. Und so wie dein Zimmer aussieht, bist du die kleine Miss Beliebt.«
    Ruben
, wiederhole ich und merke mir den Namen. Loretta tratscht gerne, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie irgendetwas über ihn erzählt hat.
    Er berührt den riesigen Strauß roter Rosen. »Der muss echt teuer gewesen sein. So einen spendablen Freund hätte ich auch gerne.«
    »Die Blumen sind nicht von meinem Freund«, sage ich.
    »Wow, dann machst du wohl was richtig. Und was ist mit diesem kleinen Kerlchen hier?« Er nimmt den Teddybären, der ein Muskelshirt mit der Aufschrift
Werd schnell wieder
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