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Der verlorene Troll

Der verlorene Troll

Titel: Der verlorene Troll
Autoren: Charles Coleman Finlay
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Der Mann, der fortging

    Bran betrat die große Halle. Er war noch in das gestohlene Wolfskostüm gekleidet und hatte die zerbeulte Maske unter den Arm geklemmt. Die Vorhänge an den großen Fenstern waren beiseitegeschoben worden, und die Flügel standen weit offen. Von draußen drang das letzte müde Getöse der Feierlichkeiten herein, während die blassen Finger der Morgendämmerung bereits am schwarzen Nachthimmel zupften.
    Er ließ die Maske auf den langen Tisch in der Mitte des Saals fallen. Ein Diener stellte einen Kelch vor ihn und goss eiskalten Wein hinein. Bran griff ohne nachzudenken zu und stöhnte sogleich vor Schmerz. An Daumen und Zeigefinger seiner Schwerthand waren die ersten Fingerglieder abgehackt worden. Während des Kampfs hatten sich die Wunden wieder geöffnet. Auch waren die Nägel, die sie ihm an den anderen Fingern herausgerissen hatten, längst nicht so gut verheilt, wie er gedacht hatte.
    Er nahm den Kelch mit der linken Hand, hielt ihn sich vors Gesicht und sog den süßen Pflaumenduft ein. Dann drückte er das kühle Metall gegen die Schwellungen an seiner Stirn.
    Welche Erleichterung.
    Doch sie währte nicht lange. Sein Herr, auch er noch in einem eleganten Löwenkostüm aus goldener Rüstung und smaragdgrüner Seide, trat aus dem Schatten. Er schritt um den Tisch herum und blieb hinter Bran stehen. Das Gewicht der goldenen Maske legte sich schwer auf seinen Rücken.
    »Wer war das?«
    Bran schrak zusammen, als die tiefe Stimme durch den leeren Raum hallte. »Wer war das?« Wer war der dunkelhaarige Mann, der Riese, der mit Bran aus den Bergen gekommen war und sich mit ihm heimlich in die Stadt geschlichen hatte.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Ich versichere Euch dreimal, dass ich es wahrhaftig nicht weiß.«
    »Aber er hat dir zweimal das Leben gerettet, einmal im Kampf gegen die Wachposten und dann noch einmal, als er sein Leben für deines tauschte.«
    Sollten diese Worte Bran daran erinnern, dass der Baron seine Meinung ändern konnte und Brans Leben vielleicht doch nicht schonte?
    »Das war nicht das erste Mal. Zum ersten Mal rettete er mir das Leben, als mich die Bergbauern gefangennahmen und auf einen Scheiterhaufen banden.«
    In dieser Nacht hatte Bran mehrere Fingerglieder und Nägel verloren und alle Hoffnung auf sein Leben aufgegeben, bis der Fremde aufgetaucht war. Er setzte den Becher an den Mund. Auf ein Mal getrunken war der Wein zu süß und zu stark, dennoch brachte er Linderung. Er hielt dem Diener den Kelch entgegen, aber dieser machte keine Anstalten, ihn erneut zu füllen.
    »Dachte er etwa, er könne nach all dem einfach so verschwinden?«
    »Ihr habt ihn gesehen«, sagte Bran.
    »Das habe ich. Und nur deshalb stehst du jetzt hier vor mir. Wem!«
    Der Diener glitt lautlos herbei und füllte Brans Kelch. Sein Kopf pochte immer noch, sein ganzer Körper schmerzte, erschöpft von den Torturen der letzten Tage. Er nahm einen kleinen Schluck. Die Schritte um den Tisch herum waren leicht, viel zu behutsam für einen derart großen Mann in einem Kostüm, das gut und gerne einhundert Pfund wog. Bran senkte den Kelch und sah in die unergründlichen Augen, die ihn aus dem nachgebildeten Löwengesicht heraus anstarrten. Die Maske war aus Gold gefertigt und wurde von zwei riesigen Elfenbeinzähnen aus dem Kiefer eines Dolchzahnlöwen umrahmt.
    »Du weißt also nichts über diesen Mann? Nichts über seine Heimat, seine Mutter, seine Pflichten?«
    »Nicht mehr, als er auf Eure Fragen antwortete«, erwiderte Bran.
    »Diese Antworten waren nichts als Gespött.«
    Bran war nicht überzeugt. »Mag sein. Als ich ihm begegnete, konnte er unsere Sprache nicht, aber auch als er sie dann beherrschte, erzählte er nicht viel.«
    »Und wie erklärst du sein Verhalten?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Bran. »Ich weiß nicht, wie ich ihn erklären soll. Er ging dahin, wo er wollte, und tat, was immer ihm beliebte.«
    »Wie nannte er sich?« Finger trommelten auf den Tisch, eine wohlüberlegte Geste der Ungeduld.
    Bran dachte nach, ehe er antwortete. Zu den wenigen Dingen, die ein Mann besitzen konnte, gehörte sein Name. Nur ihm selbst stand es zu, ihn zu offenbaren. Aber wen würde es kümmern, wenn Bran den Namen des Fremden preisgab? Niemand, außer dem Mann, der neben ihm stand.
    »Er sagte, sein Name sei Claye«, erklärte Bran schließlich.
    Draußen wurde die aufgehende Sonne von Jubelrufen empfangen. Licht strömte in den Saal und erhellte die schäbigen, augenlosen
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