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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel
Autoren: Nick Cave
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    Dort unten! O kleines Tal!
    Zwei schrundige Landknie steigen auf und öffnen sich zu einer Spalte. Hinab geht’s über die zernagte Innenseite, die bebenden Flanken, vorbei an Bäumen, die sich unter Schlinggewächsen biegen. Einige stehen bedenklich dem Talgrund zu geneigt, die Wurzeln ängstlich aus dem Boden gereckt unter der drückend kriechenden Last, die sie fesselt und bindet und schwer wie die Welt auf ihren Gliedern liegt. Diese verstrickten Kletterpflanzen, diese Bäume, alle von Ranken verknüpft und an den Boden gekettet.
    Wir bewegen uns von Süden nach Norden in Längsrichtung des Tales dem Flug der Krähe nach und folgen der Hauptstraße, die sich über den flachen Bauch des Tales schlängelt. Von hier oben, wo wir über die ersten von vielen hundert Morgen schwelenden Zuckerrohrs hinschweben, sieht sie aus wie ein schmales Band.
    Heut ist die erste Nacht des jährlichen »Abbrennens«, eines sehr wichtigen und festlichen Ereignisses in Ukulore Valley, bei dem sich die gesamte Einwohnerschaft zu den hochgewachsenen Feldern begibt, um zu beobachten, wie die Feuerwand das nutzlose Laub, den ›Müll‹ des Zuckerrohrs hinwegfegt. Doch diese Nacht ist hier draußen auf den Feldern alles seltsam ruhig: nasse Säcke und Schlangenprügel liegen achtlos hingeworfen, Funken und graue Asche schweben stumm im lauen Wind.
    Die Zuckerraffinerie spreitet sich an der Ostflanke, eine Meile von der Stadt entfernt. Wir hören das stete Tuckern ihrer Maschinen. Kippwagen – teils leer, teils halb beladen – stehen vergessen auf den Gleisen.
    Weiterfliegen, auf die Stadt zu und über sie hin: die rostigen Wellblechdächer werden dichter, und wir erkennen den Spielplatz, das Gericht und den Memorial Square.
    Dort unten, in der Mitte des Platzes, genau im Mittelpunkt des Tals errichtet, bröckelt und bricht unter den schweren Schlägen dreier Hämmer das marmorne Grabmal mit den Überresten des Propheten.
    Eine Gruppe schwarzgekleideter Trauernder, hauptsächlich Frauen, sieht der Zerstörung des Denkmals zu. Seht, wie sie jammern und mit den Zähnen knirschen! Und seht den großen Marmorengel, sein zu frommer Fassung gemeißeltes Gesicht, den hoch erhobenen Arm mit der vergoldeten Sichel in der Faust; werden sie auch die herunterholen?
    Und weiter, durch den Aufruhr, durch das zerwühlte Herz der Stadt, wo Frauen klagen wie bei einer Totenwache und sich in ihrem Schmerz die Knöchel blutig und die Brüste grün und blau schlagen. Seht, wie sie mit wilden schwarzen Gesten die Straßen entfachen, wie sie das Sacktuch ihrer Gewänder flehend und düster verkrampft in den Händen winden.
    Von hier oben sehen sie wie wuselnde Spatzen aus.
    Einmal diese traurigen Wesen umkreisen, und dann weiter, quer über die heimgesuchte Stadt, über die Ansammlungen von Wohnwagen, in denen die Zuckerrohrschneider leben und dem Rhythmus der Ernten nachfahren. Nur ihre Frauen und verängstigten Kinder sind hier zu dieser dunklen Stunde. Sie stehen an ihren Fenstern, die Geister ihres Atems kommen und gehen auf dem Glas, und sie hören die Wagen ihrer Männer nach Norden dröhnen und dann im Zischen und Knistern der Felder verschallen.
    Doch weiter, fliegt nur weiter, oder seid ihr müde, Brüder?
    Folgt der Maine Road, bis, vier Meilen vor der Stadt, zwei Meilen vorm nördlichen Eingang des Tals, das Zuckerrohr jäh an dürftigen Drahtzäunen endet. Hier sehen wir Transporter, Lastwagen und Kombis Kokons aus rotem Staub aufwirbeln, in langer Reihe fahren sie von der Straße auf die geteerten Bretterbuden zu. Hier leben die Ausgestoßenen, die Hobos, der Abschaum der Berge.
    Einsam brennt auf einem Müllhaufen eine Hütte vor sich hin, stößt rülpsend violetten Rauch in die bewegte Luft.
    Ein wenig weiter noch, auch wenn die Flügel schon ermüden.
    Jenseits der Hütte wird das Land sehr feucht, morastig, und aus diesem Sumpf ersteigt ein Kreislauf von Gewächsen – aus Quecken und Sumpfgras erheben sich, zu Knechtschaft geboren, hohe Bäume, auf deren hölzernen Schultern Baldachine aus verstrickten Ranken lasten.
    Hier gehen wir nieder, denn dies ist das Sumpfland.
    Von oben sehen wir eine Reihe von Fackeln unter dem dunklen Baldachin aufleuchten, ein dünnes Lichterband, das der Mitte des Kreises zustrebt.
    Mitten ins Herz des Sumpflandes ist eine tellerrunde Lichtung geschlagen, und auf dieser Lichtung sehen wir, wie ein Rad in einem Rad, einen schwarzen, dampfenden Kreis aus Treibschlamm, groß genug, eine Kuh zu
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