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Der unsichtbare Turm

Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm
Autoren: Nils Johnson-Shelton
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nicht auf. Noch nie hatte Merlin so tief geschlafen.
    Er genoss seine Freiheit und das Faulenzen.
    Vielleicht hätte er noch länger geschlafen, wenn die Wassernymphe ihm nicht über die windgetriebenen kleinen Wellen zugegurrt hätte.
    Er erwachte, ließ aber die Augen geschlossen. Ruhig fragte er: »Was gibt es, Nyneve, siehst du nicht, dass ich versuche zu schlafen?«
    »Ambrosius, du bist es wirklich.« Ambrosius war einer von Merlins Namen aus alten Zeiten.
    »Wer sonst, meine Liebe? Kein anderer ist so gezeichnet.« Er rieb sich über den Kopf, um auf seine Tätowierungen aufmerksam zu machen.
    »Du hast jetzt noch viel mehr Zeichnungen«, sang die Herrin vom See.
    »Was soll ich dazu sagen? Ich war nicht untätig. Und mir war langweilig. Mehr als tausend Jahre sind eine lange Zeit, selbst für Geduldige wie uns.« Schließlich öffnete er die Augen und hob den Kopf.
    Die jung aussehende Nymphe war am Rand des Sees halb aus dem Wasser gekommen und stützte sich auf ihre Ellenbogen. Ihre Haut war hellblau und ihr ganzes Sein bestand aus Wasser. Dort, wo ihr Körper mit dem See in Berührung kam, löste sich ihre Haut auf. Merlin wusste natürlich, dass sie der See war und der See sie, doch nie zuvor hatte ihn dieser Anblick so beeindruckt wie in diesem Moment.
    Ihr Gesicht war unerhört jung. Vor vielen, vielen Jahrhunderten hatte die Nymphe Merlin zum Narren gehalten, ihn unter die glasige Oberfläche gezogen und ihn beinahe nicht wieder gehen lassen. Damals hatte er ihr entkommen können. Er konnte nicht glauben, dass sie noch immer so viel Macht hatte.
    Er schüttelte die Wirkung ihrer Reize ab und sprach: »Was gibt es Neues, Nyneve?«
    »Der neue Königsjunge war vor einiger Zeit hier. Vor ein paar Wochen.«
    »Ich weiß.«
    »Hast du ihn geschickt?«
    »Ja, das habe ich.« Merlin setzte sich auf und zog seine Schuhe an.
    »Hast du das Schwert gesehen?«, fragte sie beiläufig.
    »Ja. Danke, dass du es aufbewahrt hast.«
    »Natürlich. Es war leicht, darauf aufzupassen. Dafür hat das Sangrealit gesorgt.«
    »Natürlich«, echote der alte Mann und kam auf die Beine. »Du und das Schwert, ihr seid ein perfektes Paar, Nyneve. Beide uralt, und beide besonders erlesen.« Er runzelte die Stirn.
    Ihre Ausstrahlung verdüsterte sich, als sie antwortete: »Das ist wahr.« Bescheidenheit war nicht ihre Sache. »Und wo, wenn ich fragen darf, befinden sich wohl das Schwert und sein Träger in diesem Moment?«
    »Artus – Artie – ist auf seiner Seite und wartet auf meine Anweisungen. Und was das Schwert angeht – ich hatte gehofft, dass du mir helfen könntest. Wir haben es nämlich verloren.«
    Die Nymphe warf Merlin einen bösen Blick zu, der ihm durch Mark und Bein ging. »Schande, Ambrosius!«, schimpfte sie. »Du weißt doch, dass das Schwert nur für bestimmte Aufgaben zur Verfügung steht. Gewiss weiß ich, wo es ist. Doch ich werde mich nicht herablassen, dir mehr zu sagen, als du bereits ahnst. Denn ich fürchte, dass deine und Excaliburs Ziele sich widersprechen.« Sie stieß die Worte mit solch finsterer Autorität hervor, dass Merlin sich fühlte wie ein einfacher Mann. Er glitt den Baumstamm hinab und plumpste auf den Hintern.
    »Sag mir, Herrin, was du mir sagen kannst.«
    Nyneve zog sich bis zu den Schultern ins Wasser zurück. Knapp unter der Wasseroberfläche breitete sich ihr glitzerndes Haar wie ein Fächer im See aus. Sie lächelte ein grausames Lächeln und sagte: »Das Schwert will drei Dinge, Ambrosius. Vom rechtmäßigen König in Besitz genommen werden.« Merlin nickte. »Die Welten wieder füreinander öffnen.« Merlin neigte zustimmend den Kopf. »Und …«
    Sie machte eine Pause. Merlin konnte es kaum ertragen. Verzweifelt fragte er: »Was noch, meine Herrin?«
    Die Nymphe sagte: »Du bist alt, nicht wahr, Ambrosius?«
    »Du weißt, dass ich das bin.«
    »Ja. Du hast viele Leben gelebt und viele Tode erlitten.«
    Merlin verlor die Geduld. Seine Müdigkeit ließ nach und wurde durch eine Energie ersetzt, die sich in seinen Zehen und Fingerspitzen sammelte. Er spürte Wut in sich aufsteigen. »Du weißt, dass das so ist. Und das Gleiche gilt für dich, meine Liebe.«
    »Das mag sein. Aber ich bin kein Stück menschlich, während du es zumindest zum Teil bist. Weißt du, weshalb du so lange gelebt hast, alter Zauberer?«
    Die Antwort darauf war einfach: »Macht, Nyneve, und der Verstand, der damit einhergeht.«
    Sie schüttelte den Kopf und klare, kalte Wassertropfen flogen glitzernd
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