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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition)
Autoren: Andrej Kurkow
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1
     
    Zuerst landete einen Meter vor seinen Füßen ein Stein. Viktor sah sich um – zwei Männer beobachteten ihn grinsend. Sie standen auf der Straße neben einer Baustelle, das Kopfsteinpflaster war aufgerissen. Einer bückte sich, nahm noch einen Pflasterstein in die Hand und schleuderte ihn schräg wie auf einer Kegelbahn in Viktors Richtung. Nach dem ersten Schrecken machte er, daß er wegkam – sein Gang ähnelte dem eines Wettkampfgehers. ›Nur nicht rennen!‹ sagte er sich. Erst vor seinem Haus blieb er stehen und warf einen Blick auf die große Uhr an der Ecke – 21.00   Uhr. Alles still und menschenleer. Als er bei der Haustür ankam, war seine Angst verschwunden. Die einfachen Leute langweilen sich heutzutage, Vergnügen können sie sich nicht mehr leisten. Da kegeln sie eben mit Pflastersteinen.
    In der Küche war es dunkel. Wieder mal gab es keinen Strom und damit kein Licht. Im Finstern hörte man die watschelnden Schritte des Pinguins Mischa. Der war im Herbst vor einem Jahr in Viktors Leben aufgetaucht, als der Zoo hungrige Tiere an alle Leute verschenkte, die in der Lage waren, sie zu füttern. Viktor holte sich damals einen Königspinguin. Eine Woche vorher hatte ihn seine Freundin verlassen. Er hatte sich einsam gefühlt. Aber der Pinguin Mischa brachte seine eigene Einsamkeit mit, jetzt ergänzten sich die beiden Einsamkeiten, was eher den Eindruck einer gegenseitigen Abhängigkeit als den einer Freundschaft erweckte.
    Viktor suchte sich eine Kerze, zündete sie an und stellte sie in einem leeren Mayonnaisegläschen auf den Tisch. Im diffusen, aber poetischen Kerzenlicht suchte er im Halbdunkel Papier und Füller. Er setzte sich mit dem Blatt Papier vor der Kerze an den Tisch. Diese weiße Seite galt es zu füllen. Wäre Viktor ein Dichter gewesen, würden jetzt gereimte Zeilen über das leere Blatt fließen, aber er war kein Dichter, sondern ein Schriftsteller, der zwischen journalistischen Versuchen und kleinen Prosaarbeiten steckengeblieben war. Das Beste, was er zustandegebracht hatte, waren kurze Geschichten. Sehr kurze. So kurze, daß er, selbst wenn man ihm etwas dafür bezahlte, davon nicht leben konnte.
    Draußen krachte ein Schuß. Viktor zuckte zusammen, duckte sich, schlich vorsichtig ans Fenster, aber es war nichts zu sehen. Dann kehrte er zu seinem Blatt Papier zurück. Seine Phantasie arbeitete schon an einer Geschichte um diesen Schuß herum. Diese Geschichte reichte genau für eine Seite – nicht mehr und nicht weniger. Bei den letzten tragischen Worten der neuen kurzen Erzählung ging das Licht wieder an. Die Deckenlampe flammte auf. Viktor pustete die Kerze aus, nahm gefrorene Fische aus dem Tiefkühlfach und warf sie in Mischas Schüssel.
    2
     
    Am nächsten Morgen, als er seine neue Geschichte noch einmal getippt und sich von dem Pinguin verabschiedet hatte, ging Viktor zur Redaktion einer neuen, großen Zeitung. Sie druckten alles mögliche ab, von kulinarischen Rezepten bis zu Neuigkeiten der postsowjetischen Kleinkunstbühne. Den Redakteur der Zeitung kannte er ziemlich gut – sie hatten einige Male fröhlich zusammen gepichelt, und danach hatte ihn der Chauffeur der Zeitung stets nach Hause gefahren.
    Der Redakteur begrüßte ihn lächelnd und klopfte ihm auf die Schulter. Er bat die Sekretärin, einen Kaffee zu kochen, und überflog professionell mit einem Blick das mitgebrachte Werk.
    »Nein, Alter«, sagte er schließlich. »Sei nicht sauer. Das geht nicht. Hier muß entweder mehr Blut her oder überhaupt was anderes, eine fulminante oder skandalöse Liebesgeschichte. Versteh doch, von einer Zeitungserzählung erwarten die Leute eine Sensation.«
    Viktor verabschiedete sich, ohne auf den Kaffee zu warten.
    Ganz in der Nähe befand sich die Redaktion der ›Hauptstadtnachrichten‹. Viktor gelang es nicht, zum Chefredakteur vorzudringen, also klopfte er bei der Kulturabteilung an.
    »Eigentlich drucken wir überhaupt keine Literatur«, informierte ihn ein alter Kulturredakteur sehr freundlich und höflich. »Aber lassen Sie es mal da. Möglich ist alles. Vielleicht in irgendeiner Freitagsausgabe. Wissen Sie, aus Gründen der Ausgewogenheit. Wenn es zu viele schlechte Nachrichten gibt, wollen die Leser gern was Neutrales. Ich werde mir Ihre Geschichte mal ansehen!«
    Er befreite sich von seinem Besucher mit einer Visitenkarte und wandte sich wieder seinem mit Papieren überhäuften Schreibtisch zu. Erst da begriff Viktor, daß er nicht einmal ins Büro gebeten
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