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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition)
Autoren: Andrej Kurkow
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ausgezeichnet, hätte lieber einen Wodka als einen Tee getrunken. Aber Wodka war keiner da.
    Man hatte ihm ein tolles Spiel angetragen. Und obwohl Viktor noch nicht wußte, wie er seine neuen Verpflichtungen erfüllen sollte, spürte er den wunderbaren Vorgeschmack von etwas Neuem und Außergewöhnlichem. Der Pinguin Mischa watschelte auf dem Korridor herum und stupste von Zeit zu Zeit an die geschlossene Küchentür. Schließlich fühlte sich Viktor schuldig und ließ Mischa herein. Der blieb neben dem Tisch stehen. Da er fast einen Meter groß war, konnte er alles auf dem Tisch überblicken. Er betrachtete die Teetasse, dann richtete er seinen Blick auf Viktor. Er sah ihn durchdringend an, wie ein durch Erfahrung klug gewordener Parteifunktionär. Viktor wollte dem Pinguin etwas Gutes tun, ging ins Badezimmer und ließ kaltes Wasser in die Wanne laufen. Der Pinguin schlurfte beim Geräusch des fließenden Wassers sofort heran und stürzte sich in die Fluten, ohne abzuwarten, bis die Wanne voll war.
    Morgens fuhr Viktor in die Redaktion der ›Hauptstadt-nachrichten‹, um sich vom Chefredakteur ein paar praktische Tips geben zu lassen.
    »Wie soll ich die Personen aussuchen?« fragte Viktor.
    »Nichts einfacher als das. Schauen Sie nach, über wen die Zeitungen schreiben. Sie können sich natürlich auch selber Leute aussuchen – das Vaterland kennt ja nicht alle seine Helden, viele bleiben auch gern inkognito…«
    Nachdem er alle nur möglichen Zeitungen gekauft hatte, kam Viktor abends nach Hause und setzte sich an den Küchentisch.
    Die ersten Zeitungen gaben ihm Stoff zum Nachdenken, er unterstrich die Namen der Very Important Persons und schrieb sie in ein Arbeitsheft. Viel Arbeit wartete auf ihn. Allein aus den wenigen Zeitungen hatte er ungefähr sechzig Namen herausgeschrieben.
    Dann trank er Tee und dachte weiter nach, jetzt schon über die literarische Gattung. Seine Texte sollten lebendig und gefühlvoll sein, so daß selbst ein einfacher Kolchosbauer mit den Tränen zu kämpfen hätte, wenn er den Nachruf über den ihm unbekannten Verstorbenen las. Am nächsten Morgen suchte er sich eine Person für das erste ›Kreuzchen‹ aus. Nun brauchte er nur noch das Okay des Chefs.
    5
     
    Morgens um halb zehn, nach der ›Absegnung‹ durch Igor Lwowitsch, einer Tasse Kaffee und der feierlichen Überreichung eines Presseausweises, kaufte Viktor eine Flasche finnischen Wodka am Kiosk und machte sich auf den Weg zum Empfangszimmer von Alexander Jakornitzkij, ehemals Schriftsteller, nun Parlamentsabgeordneter.
    Als der Abgeordnete hörte, daß ihn ein Korrespondent der ›Hauptstadtnachrichten‹ interviewen wollte, war er sehr erfreut. Er bat die Sekretärin gleich, allen weiteren Besuchern abzusagen und niemanden mehr zu ihm zu lassen.
    Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, stellte Viktor die Flasche finnischen Wodka und ein Diktiergerät auf den Tisch. Der Abgeordnete stellte ebenso flink zwei Kristallgläschen neben die Flasche.
    Der Abgeordnete redete munter drauflos, ohne irgendwelche Fragen abzuwarten. Über sein Amt, über seine Kindheit, über seine Zeit als Komsomolzengruppenleiter an der Uni. Als die Flasche zur Neige ging, prahlte er mit seinen Fahrten nach Tschernobyl, wobei sich angeblich Tschernobyl positiv auf seine Potenz ausgewirkt hatte, was im Zweifelsfall seine Frau, Lehrerin einer Privatschule, bezeugen könne und auch seine Geliebte, Sängerin an der Nationaloper.
    Beim Abschied umarmten sie sich. Der Abgeordnete hinterließ bei Viktor einen äußerst lebendigen Eindruck, vielleicht sogar zu lebendig für einen Nekrolog. Aber das war ja der Witz: jeder Verstorbene war gerade noch lebendig gewesen, und die Zeilen des Nekrologs sollten seine schwindende Wärme bewahren. Die Texte durften nicht hoffnungslos düster sein.
    Zu Hause schrieb Viktor schnell den Nekrolog – er setzte ein ›Kreuzchen‹ neben den Namen des Abgeordneten –, eine zwei Seiten lange warmherzige Erzählung über einen lebendigen, sündigen Menschen. Er brauchte noch nicht einmal in die Tonbandaufzeichnung hineinzuhören, alles war noch ganz frisch in seinem Gedächtnis.
    Als Igor Lwowitsch am nächsten Morgen den Text las, war er sehr angetan.
    »Das ist ja ein Kunstwerk!« sagte er. »Wenn nur der Ehemann dieser Opernsängerin den Mund hält…« ›Um ihn mögen heute viele Frauen trauern, aber wir, obwohl wir auch ihrer gedenken, bringen all unser Mitgefühl der Gattin und noch einer Frau entgegen, deren
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