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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition)
Autoren: Andrej Kurkow
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worden war. Das ganze Gespräch hatte zwischen Tür und Angel stattgefunden.
    3
     
    Zwei Tage später klingelte das Telefon.
    »Hier sind die ›Hauptstadtnachrichten‹«, ertönte eine helle, resolute Frauenstimme. »Der Chefredakteur möchte Sie sprechen.«
    Der Hörer wanderte von einer Hand in die andere.
    »Viktor Aleksejewitsch?« fragte eine Männerstimme.
    »Ja.«
    »Könnten Sie heute zu uns kommen? Oder sind Sie beschäftigt?«
    »Ja – das heißt nein«, antwortete Viktor. »Ich habe Zeit.«
    »Dann schicke ich Ihnen einen Wagen vorbei. Einen blauen Shiguli. Wo wohnen Sie?«
    Viktor diktierte seine Adresse. Der Chefredakteur, der sich nicht einmal vorgestellt hatte, verabschiedete sich und sagte: »Bis gleich.«
    ›Ob das wegen der Erzählung ist‹, dachte Viktor, als er sich ein Hemd aus dem Schrank suchte. – ›Nein, wohl kaum wegen der Erzählung… Was brauchen die meine Erzählung? Obwohl, man kann nie wissen, ach, hol’s der Teufel!‹
    In dem blauen Shiguli vor dem Hauseingang wartete ein sehr höflicher Chauffeur, der Viktor in die Redaktion brachte.
    »Igor Lwowitsch«, stellte sich der Redakteur vor und streckte die Hand aus. »Schön, Sie kennenzulernen.«
    Der Chefredakteur sah eher wie ein gealterter Sportler als wie ein Journalist aus. Vielleicht war dem ja auch so, aber in seinen Augen schimmerte jene merkwürdige Ironie, die eher von Verstand und Bildung kommt als vom Konditionstraining in der Sporthalle.
    »Setzen Sie sich doch! Einen Kognak?« Er unterstrich seine Worte mit einer herrschaftlichen Geste.
    »Nein danke. Vielleicht einen Kaffee…«, bat Viktor, während er sich in dem Ledersessel vor einem imponierend großen Schreibtisch niederließ.
    Der Chefredakteur nickte. Dann nahm er den Telefonhörer und sagte: »Zwei Kaffee.«
    »Wissen Sie«, begann er und maß Viktor mit einem wohlwollenden Blick, »vor kurzem haben wir noch über Sie gesprochen, und gestern kommt unser Boris Leonidowitsch, unser Kulturredakteur, zu mir und sagt: ›Werfen Sie da mal einen Blick drauf‹ und schiebt mir Ihre kleine Erzählung hin. Eine hervorragende Erzählung… Da fiel mir wieder ein, daß wir neulich schon mal von Ihnen gesprochen hatten, und ich wollte Sie gern kennenlernen…«
    Viktor hörte zu und nickte höflich. Igor Lwowitsch machte eine Pause, lächelte und fuhr fort.
    »Viktor Aleksejewitsch, möchten Sie für uns arbeiten?«
    »Was soll ich denn schreiben?« fragte Viktor, dem sich schon bei der bloßen Vorstellung einer neuen journalistischen Zwangsarbeit das Herz zusammenkrampfte.
    Igor Lwowitsch wollte antworten, aber gerade in dem Augenblick kam die Sekretärin mit dem Tablett herein, stellte die Tassen, Kaffee und Zuckerdose auf den Tisch. Der Chefredakteur brach mitten im Wort ab, als hielte er den Atem an, und wartete, bis die Sekretärin wieder draußen war.
    »Es ist streng vertraulich«, sagte er. »Wir brauchen einen talentierten Autor für Nekrologe, einen Meister des kurzen Genres. Kompetent, kurz und ziemlich außergewöhnlich. Verstehen Sie?« Er sah Viktor hoffnungsvoll an.
    »Das heißt, ich soll in der Redaktion sitzen und warten, bis jemand stirbt?« fragte Viktor leise und vorsichtig, als ob er eine bestätigende Antwort befürchtete.
    »Natürlich nicht! Die Arbeit ist viel interessanter und verantwortungsvoller. Sie müßten eine Kartei von ›Kreuzchen‹ anlegen – so nennen wir hier die Nekrologe – von noch lebenden Menschen, angefangen bei bekannten Politikern über Gangster bis hin zu Prominenten in Kultur und Kunst. Ich möchte, daß Sie so schreiben, wie noch nie jemand über Tote geschrieben hat. Ihrer Erzählung nach zu urteilen, glaube ich, Sie können das!«
    »Und wie sieht das mit dem Honorar aus?« fragte Viktor.
    »Fangen wir mal mit 300   Dollar an. Was die Arbeitszeit betrifft, haben Sie völlig freie Hand. Ich muß natürlich auf dem laufenden sein, wer sich in Ihrer Kartei befindet. Kein noch so zufälliger Unfall sollte uns unvorbereitet überraschen! Und noch eine Bedingung. Sie müßten unter Pseudonym schreiben. Das ist übrigens auch in Ihrem Interesse.«
    »Was für ein Pseudonym?« fragte Viktor, eher sich selber als den Chefredakteur.
    »Denken Sie sich eins aus, und wenn Ihnen keins einfällt, können Sie erst einmal mit ›Der engste Freundeskreis‹ unterschreiben.
    Viktor nickte.
    4
     
    Zu Hause trank Viktor vor dem Schlafengehen einen Tee und dachte über das Thema Tod nach. Es fiel ihm leicht. Er fühlte sich
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