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Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel

Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel

Titel: Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
Autoren: Ann Benson
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Prolog
    Ein modriges Buch an die Brust gedrückt, ließ der alte Mann namens Robert Sarin sich vorsichtig in einen gebrechlichen Schaukelstuhl aus Holz sinken und schob seine steifen Glieder hin und her, bis er einigermaßen bequem saß. Dann legte er das Buch in seinen Schoß und faltete die Hände über dem rissigen Ledereinband. Unter gemächlichem Schaukeln zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er den nächsten Tag überstehen sollte und dann den darauffolgenden, ohne über irgendein gräßliches Problem zu stolpern, das vorherzusehen er nicht die Mittel besaß. Er starrte ausdruckslos auf die alte Frau in dem Bett neben ihm. Ihr regloser Blick war nach oben zur Strohdecke gerichtet, als suche sie nach Anzeichen für irgendein Ungeziefer, das töricht genug war, sich in ihrem tadellosen Heim blicken zu lassen.
    Raus, verdammte Ratte! pflegte sie zu sagen, wenn ein ahnungsloses Nagetier sich in ihr Reich verlief, und ihr Sohn, der an ihrer Seite Wache hielt, wenngleich selbst alt, konnte sich noch gut an das rachsüchtige Lachen erinnern, mit dem sie an die Vernichtung des Eindringlings ging. Als Sarin noch ein Kind war, hatte ihre Willenskraft ihm manchmal solche Angst eingejagt, daß er unter das Bett gekrochen war, in dem sie nun lag, und dann schüchtern darunter hervor nach dem Strohdach gespäht hatte.
    Und die verdammten Ratten waren tatsächlich verschwunden, erinnerte er sich, und zwar immer in angemessener Eile, denn in der Blüte ihrer Jahre war seine Mutter keine Frau, mit der man scherzte. Nicht einmal in der Gebrechlichkeit ihres zehnten Lebensjahrzehnts, als ihre Haut so dünn wurde, daß sie durchsichtig war, und ihre Augen trübe, hatte ihr Scharfsinn sie verlassen. Noch am Rand des Todes klammerte sie sich an das Leben mit der wilden Zähigkeit einer Frau, die zu früh an den Abhang gerufen wurde, einer Frau, die eher die Glocke zerschlagen als zulassen würde, daß sie zu ihrem Andenken läutete. Sie war noch nicht bereit, in die Leere zu springen; traurig dachte er, daß sie niemals bereit sein würde. Sie hatte ihm oft mit brüchiger, bitterer Stimme gesagt, sie habe ihre Aufgabe auf Erden noch nicht vollendet. Trotz seiner Ehrfurcht vor ihr war er immer sicher gewesen, daß sie ihn sehr liebte; sie hatte ihm alles beigebracht, was er wußte, und auch er war noch nicht bereit, sie gehen zu lassen.
    Durch ihre pergamentdünne Haut konnte er die Venen sehen und fragte sich, wie ihr Herz, dessen Wände mittlerweile dünn wie Papier waren, diese Venen weiterhin mit Blut versorgte, so daß sie ihre blaue Farbe behielten. Ihr Gesicht, in der Jugend so klar und fest, war nun ein Gewirr von Falten und Runzeln, gesprenkelt von den seltsamen dunklen Flecken des Alters, unerwünschten gelblichgrauen Stellen, die eines Tages auf der Haut erschienen, sich festsetzten und rücksichtslos vermehrten. Die Brust der alten Frau hob sich langsam, fast unmerklich, und senkte sich dann wieder; mit jeder Wiederholung wurde die Pause zwischen Einatmen und Ausatmen ein wenig länger, und bald, das wußte Sann, würden die Abstände so groß werden, daß der Rhythmus nicht mehr aufrechtzuerhalten war.
    Ist das alles? fragte er sich. Nur eine Unterbrechung im Rhythmus? Es brauchte doch gewiß mehr als das, um fast ein Jahrhundert Beständigkeit zu einem Ende zu bringen. Er zog eine Feder, die als Lesezeichen diente, zwischen den Seiten des Buches hervor, streckte die Hand aus und hielt die Feder vor Mund und Nase der alten Frau; alle paar Augenblicke bewegten sich die zarten Federstrahlen ganz leicht vom schwachen Hauch ihres Atems. Doch nach ein paar weiteren langen, stockenden Atemzügen hörte die Bewegung schließlich auf, und die Feder in seiner Hand regte sich nicht mehr.
    Er hielt sie noch eine Zeit, die ihm sehr lang vorkam, bevor er ganz überzeugt war, daß seine Mutter gegangen sei. Dann senkte er den Kopf und weinte lautlos; seine Tränen fielen wie sanfter Regen auf den modrigen Einband des Buches.
    Er hob die traurigen Augen und blickte über den reglosen Körper seiner Mutter hinweg zum Fenster auf der anderen Seite des Bettes; mehrere Augenpaare schauten herein, deren Form von Wellen in dem unebenen Glas seltsam verzerrt war. Er schaute von einem zum anderen, bis er mit allen Verbindung aufgenommen hatte. Er sah den unverkennbaren Ausdruck der Angst, den Schmerz der Ungewißheit; seine Mutter war ihre Heldin gewesen, ihre Beschützerin, und nach ihrem Hinscheiden wäre es eigentlich seine Aufgabe
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