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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
Autoren: Nora Bossong
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I
     
    Essen lag 6000 Kilometer entfernt, gefühlt neun Stunden, zwei Lufthansa-Menüs, drei Tageszeitungen. Luise Tietjen befand sich durch ein Weltmeer von der Firma Tietjen und Söhne getrennt und wurde dennoch in das Unternehmen hineingeschleudert, dorthin, wo sie hingehörte, wo sie zuletzt hatte hingehören wollen. Jahresumsatz 38 Millionen Euro, Umsatzentwicklung minus 2,7 Prozent, 14 Millionen verkaufte Frotteeprodukte im letzten Geschäftsjahr. Es war die Wucht von 8,9 Millionen Eigenkapital, die Luise an diesem Tag, mitten im verschneiten Brooklyn, traf. 226 Mitarbeiter, Verlustvorträge nach wie vor über dem Stammkapital, Tendenz rückläufig. Kurt Tietjen hatte es sich zum Prinzip gemacht, zu zerstören, was nach ihm kam, um loszuwerden, was vor ihm gewesen war, und Luise, 27 Jahre alt, war die Haupterbin ihres Vaters.
    Sie war um 16.30 Uhr in Newark gelandet. Als sie ihr Telefon eingeschaltet hatte, war eine Nachricht eingegangen.
    Luise – Ihr Vater in ernstlich schlechtem Zustand. Bin auf dem Weg zu ihm. Halte Sie informiert. Bemühen Sie sich vorerst NICHT um einen Flug nach NY. KvW
    Kiesbert von Weiden, ein alter Bekannter ihres Vaters, der seit einigen Monaten in der Verwaltung der Firma saß, hatte nicht gewusst, dass sie bereits angekommen war – dass Kurt sie wieder einbestellt hatte, zum ersten Mal nach monatelangem Schweigen.
    Luise hatte die Nachricht unbeantwortet gelassen, hatte ihre Koffer aus dem Flughafengebäude gerollt und war im weißen Sonnenlicht stehen geblieben. Schneeberge an den Rändern der Fahrwege. Darüber die Flagge der Vereinigten Staaten. Luise besaß kein Gefühl für dieses Land, doch sie war jedes Mal, wenn sie am Flughafen Newark ankam, von der Zuverlässigkeit des blauen Himmels überrascht. Beißender Optimismus. Sie hatte ein paar Züge lang die helle Luft geatmet und war dann in ein Taxi gestiegen. Wenig später war sie durch den Holland Tunnel nach Manhattan eingefahren.
    In all den Wochen, die Luise in New York verbracht hatte, weil sie von Kurt herzitiert worden war, weil sie stets, wenn Kurt sie anrief, umgehend ihre Sachen packte und nervös zum Flughafen fuhr, war ihr nie klar gewesen, weswegen er gerade sie zu sich holte. Als sie klein gewesen war, hatte ihr Vater kaum von ihr Notiz genommen, erst mit ihrer Volljährigkeit war sie für ihn zu jener Person geworden, auf die er irgendwann das Familienvermögen schieben würde, die Verantwortung, die an ihm hing, wohin er auch zog, in welchem Loch er sich auch versteckte, all das Geld, das sich in Aktien, Immobilien und diverse weitere Anlagetricks aufteilte.
    Luise ging mit Kurt spazieren, und er zeigte ihr seine Lieblingsplätze, die nicht zahlreich waren, den Battery Park an der Südspitze Manhattans, die alten Fabrikgebäude und Lagerhallen, die nun von Galerien besetzt waren, das ABC-Viertel, in dem einige Häuser noch an jene baufälligen Jahrzehnte erinnerten, da in diesen Straßenzeilen Sodafabriken mittellosen Einwanderern eine erste Arbeitsstelle geboten hatten. Er zeigte ihr das Gebäude der Triangle Textilfabrik, in dem vor knapp hundert Jahren ein Zigarettenstummel auf einen Stapel Stoffe gefallen war und einen Großbrand verursacht hatte. Einige der Arbeiterinnen hätten noch an ihren Schreibmaschinen gesessen, als man sie später barg, fünfzehn verkohlte Leichen, sagte Kurt. Es war kein schöner Anblick, fügte er hinzu, diese Mädchen, nicht einmal der Tod hat sie von ihrem Diensteifer befreit.
    Vor zwei Jahren, bei ihren ersten Besuchen, hatte Luise angenommen, er ginge mit ihr nur deshalb stundenlang durch die Stadt, weil er wissen wollte, wie es in Deutschland stand. Nie hätte er es fertiggebracht, dergleichen zuzugeben, sich selbst gegenüber nicht und schon gar nicht gegenüber anderen, Werner zum Beispiel, der auf Kurts Niederlage wartete wie ein Geier, was auch immer er sich von Kurts Niederlage versprach. Kurt Tietjen musste angenommen, zumindest befürchtet haben, dass Luise alles, was er ihr sagte, nach Deutschland trug und dort dem immer bitterer zusammenschrumpelnden Kern der Familie preisgab. Denn der, wie Kurt ihn einmal nannte, dümmliche Rest der Familie wartete ja nur darauf, von ihm, Kurt, zu hören, der es gewagt hatte, sich zu entziehen. Kurt aber lud Luise immer wieder zu sich ein, nahm die Gefahr der Tratscherei in Kauf. War das Gerede ihm gleichgültig geworden? Sah er darin vielleicht sogar einen Vorteil, den Luise nicht erkannte? Was er Luise über die
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