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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
Autoren: Nora Bossong
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wohl nicht –
    Einer der beiden Polizisten kam vorbei und Kiesbert verstummte. Luise hätte Kiesbert gern gebeten zu gehen, doch dann wäre sie mit Fanny und den Polizisten allein geblieben. Sie erhob sich und trat in den Flur, sah einen der Beamten seine oktogonale Mütze in den Händen drehen, blickte an ihm hinauf bis zu seinem fetten Hals. Sein Kollege stand daneben, schmal wie ein zu schnell in die Höhe geschossener Konfirmand.
    Die Leute vom Bestattungsunternehmen hätten längst eintreffen müssen, bemerkte der Dicke.
    Bei dem Schnee!, erwiderte der Konfirmand.
    Luise stand vor der Tür des Schlafzimmers. Kiesbert ging mit einem Stoß Papiere an ihr vorbei. Als in seinem Mantel das Telefon vibrierte, hielt er inne und tastete in den Taschen danach.
    Es war zu spät, als ich ankam, sagte er, nur die Frau war da. Er deutete zum Wohnzimmer, wo Fanny auf dem Sofa saß und das Schicksal im Fernsehen vor sich ablaufen ließ. Sie hat mir die Tür geöffnet, sagte Kiesbert, sie hat mich ins Arbeitszimmer geführt und mir die Unterlagen gezeigt. Ich war der Einzige, den sie informiert hat.
    Warum hat sie keinen Arzt gerufen?, fragte Luise.
    Schock, was weiß ich. Herr Tietjen hat ihr aufgetragen, meine Nummer anzurufen, im Ernstfall. Während ich mit ihr gesprochen habe, hat sie auf den Fernseher gestarrt. Ich glaube, das war für sie realer als der Tote hier in der Wohnung. Später hat sie den Polizisten so verschreckt die Tür geöffnet, als warte sie darauf, abgeführt zu werden.
    Er warf einen Blick ins Schlafzimmer, zog seine Augenbrauen hoch und blickte hinab auf das Display seines Telefons. Vielleicht hat sie vorher nicht einmal gemerkt, dass er bereits am Sterben war, sagte Kiesbert und ließ seine Finger über das Display gleiten. Sie entschuldigen mich.
    Mit dem Telefon am Ohr zog er sich in das Arbeitszimmer zurück, Luise hörte ihn auf und ab gehen. Licht fiel über Bett und Laken, der Himmel vor dem Fenster war wolkenlos und grell. Es stimmte nicht, dass nur Fanny dabei zugesehen hatte, wie es mit Kurt Tietjen zu Ende ging. Luise sah, wie sich zuerst sein Kopf bewegte, dann der ganze Körper, der auf seinem Bett in die Baumwollwäsche eingeschlagen war, als müsse er vor Kälte geschützt werden (die Sonne schien mild, beinah warm herein, und das Zimmer war zudem beheizt). Er wandte ihr sein Gesicht zu, das blass und eingefallen war, aber nicht fremd, wie sie es erwartet hatte. Träg zirkulierte das Blut in seinem Körper, die Verfärbungen auf seiner Haut wurden kleiner, bis sie nur noch wie Altersflecken aussahen. Er schloss seine Augen und öffnete sie wieder. Seine Lippen zuckten, aber er sagte nichts. Luise hörte die Wortfetzen aus dem Zimmer nebenan, ein gebrochenes O, ein gezogenes I, wie in feed oder need oder deed . Sie sah die geöffneten Augen Kurts, seine Lippen, sein Gesicht, noch warm, noch lebendig. Da lag es. Und dann zerfiel es zu dem, was da tatsächlich lag, zu einer Maske aus kalter Haut. Sie lief ins Bad, um sich zu übergeben.
     
    Dass das ihr Vater war –
    Luise kauerte über der Toilette, ein Gestank nach Chemikalien überdeckte den beißenden Geruch des Erbrochenen, sie hielt sich am Plastikrand des Toilettensitzes fest und dachte, dass all das nicht möglich war. Menschen starben nicht mit Anfang sechzig. Sie ließen sich Zeit, bis sie siebzig Jahre alt waren, achtzig. Ohnehin starb man in ihrer Familie nicht, in der Familie Tietjen trat man ab. Aber ihr Vater hatte bereits für die Zeit nach seinem endgültigen Rücktritt gesorgt: Er hatte Kiesbert in Position gebracht, er hatte Fanny Weisung gegeben, wen sie zu informieren habe. Kurt Tietjen wollte auch nach seinem Tod das Unternehmen nicht freigeben, so wie das Unternehmen ihn niemals freigegeben hatte, nicht einmal in seinem selbstgewählten New Yorker Exil.
    Die beiden Polizisten lungerten in der Küche herum, unterhielten sich über die Wohnung, über die Möbel, Bücher und Lampen, über all das, was von dem Leben hier noch übrig war, Poor guy, not one nice piece, and this area, gosh, I’d never live here , während Fanny sich eine neue Cola öffnete und den Fernseher lauter stellte. Der Arzt war noch immer nicht eingetroffen, würde vielleicht erst in ein, zwei Stunden hier sein, New York hatte zu viele Tote oder zu wenig Ärzte, doch er musste kommen, um schriftlich festzuhalten, weshalb Kurt sich nicht mehr erhob. Erst dann würde offiziell, dass da nur noch etwas Lebloses lag.
    Fannys Blick folgte den bläulich
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