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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
Autoren: Nora Bossong
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abstrahlenden Bildern des Fernsehers. In der Hand hielt sie einen Frotteefetzen, mit dem sie sich über die Wange strich. Luise dachte an das bleiche Nichts im Nebenraum. Und vermutlich dachte auch Fanny daran, wenn es sich für sie auch anders anfühlen musste. Fanny weinte; es schien Luise tatsächlich, als weine sie, und sie stellte sich Fanny neben dem Bett vor, in dem Kurt Tietjen vor wenigen Stunden gestorben war. Wie jede seiner Entscheidungen hatte er sie getroffen, ohne jemanden in seine Überlegungen einzubeziehen.
    Seit Jahren hatte Luise angenommen, Kurt sei, so physikalisch unmöglich das auch sein mochte, nicht mehr vorhanden und nur wenn sie selbst alle zwei bis drei Monate nach New York kam und ihre Stichproben machte, in Erscheinung getreten. Sie hatte angenommen, dass es eine New Yorker Kurtwelt ohne sie nicht gab. Luise fürchtete nicht allein, Kurt zu verlieren, mehr noch hatte sie Angst davor, ihn an jemanden zu verlieren. Gern hätte sie geglaubt, dass sie über die Jahre hinweg Kurts einzige Vertraute gewesen war, und wenn nicht seine Vertraute, dann seine Botin, und wenn nicht seine Botin, dann seine Leidtragende. Sie hatte Fanny das eine Mal im Foyer getroffen, aber kaum war Luise nach Deutschland zurückgekehrt, hatte sie nicht mehr an Fanny gedacht. Jetzt sah sie diese kunststofffarbene Frau mit ihrer Coladose spielen und begriff, dass Kurt hier, wo sie ihn all die Jahre lediglich zwischengelagert geglaubt hatte, ein Leben besessen hatte.

II
     
    Kurt Tietjen war am 11. Mai 2009 in Newark angekommen. Die Umsatzprognosen seiner Firma tickten weit entfernt durch die Leitungen der kaufmännischen Abteilung, waren schlechter als im Mai vor einem Jahr und besser als im vergangenen Dezember. Es ging nicht besonders gut, aber es ging. Es würde noch lange weitergehen. Diese Firma war wie eine alte, schwerkranke Verwandte, die sich ans Leben klammerte, und niemand verstand so recht, weshalb.
    Die Luft hatte sich auf 69 Grad Fahrenheit aufgewärmt, wenig über 20 Grad Celsius, was angenehm war, angenehmer als das störrische Wetter in Deutschland, das verhangen und regnerisch auf das Land drückte. Kurt war einen Moment lang von dem ungewohnt klaren und sonnigen Himmel gelähmt. Excuse me, Sir. Er blockiere den Gehweg, erklärte eine Frau, die ein ganzes Taschenarsenal vor sich her wuchtete. Er lächelte verhalten und trat zur Seite. Dann suchte er ein Taxi, fand aber den Taxistand nirgends, er musste einen Seitenausgang genommen haben. Kurt Tietjen war schlecht im Orientieren, nur hatte er sich bislang nie orientieren müssen, das hatten andere für ihn übernommen.
    Ein gigantischer grauer Bus hielt an der Station, an der einige junge Leute, ein schlecht gekleidetes Ehepaar und die Frau mit den Koffern warteten. Der Fahrer stieß die Gepäckstücke in den geöffneten Bauch des Busses, sie schrammten über den Metallboden, und die Reisenden rückten in das hoch über dem Gepäck gelagerte Passagierdeck ein. Sie mussten eine gute Aussicht von dort haben, dachte Kurt. Wie kläglich war dagegen ein Taxi, das so dicht am Boden fuhr. Es dauerte eine Weile, bis alle Passagiere das Deck erklommen hatten. Der Fahrer lehnte neben der geöffneten Tür und zündete sich eine Zigarette an. Der Halbschatten, in dem Kurt und er standen, unter einem Dach aus Beton, umgeben von Asphalt, wäre jedem trostlos vorgekommen. Kurt aber fühlte sich wohl, anders zumindest als gewöhnlich, distanziert von jener Öde, die darin bestand, dass alles schon, ehe es eintrat, vorgezeichnet war. In Deutschland lebte er das Leben der Firma, das Recht auf ein eigenes Leben hatte er nicht.
    Durch den Schatten war die Luft grau wie die Umgebung, und die bunten Mäntel der Menschen, die aus dem Terminal zogen, wurden stumpf, sobald sie aus dem Licht heraustraten. Eine Frau hob ihren Arm, Kurt sah unbeteiligt, aber interessiert zu, sie grüßte jemanden, doch dort, wohin sie grüßte, stand niemand. Nur er. Er kannte die Frau nicht, er konnte sie gar nicht kennen, da er gewöhnlich nicht zu den Leuten gehörte, die in der Unterführung auf Busse warteten. Ihn traf man am Taxistand, und Leute, die er kannte, warteten ebenfalls dort. Die Frau löste sich aus der Gruppe der anderen stumpfen Mäntel und kam auf ihn zu. James!, rief sie hart und bestimmt.
    Er drehte sich noch einmal um, niemand anderes als er stand hier, die wenigen Gestalten, die es an diesen rauhen Ort des Flughafengeländes verschlagen hatte, waren im Bus verschwunden,
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