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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman
Autoren: Picus-Verlag
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(Moira)
    I ch denke an Klara, an die Gerlachs und vor allem an dich: Ihr wart ein vierblättriger Klee, der kein Glück brachte. Die Sängerin, das absonderliche Paar und du, mein kleiner Hautfreund, aus diesem Wirrsal gerettet. Ich webe unsere kurze Geschichte, indem ich im Garten meiner Exschwiegermutter auf einem Liegestuhl ruhe und mir das rechte Bein enthaare, das linke liegt in Gips. Der Mensch besitzt grob geschätzt fünf Millionen Haare (du weißt es besser als ich), wir schwarzen Frauen weniger, was die Sprüche der Primaten entkräftet, die uns in die Nähe der Affen rücken. Mein Minipelz genügt aber, um mich ein Schicksal lang zu beschäftigen: Heimtückisch arbeiten die Haarzellen weiter, bald wehen sie mir wieder zu, die Härchen, wie ein Kornfeld der Todessichel. Das Radio bringt ein Lied von Schumann, das Klara bei Gerlachs Fete sang. Verdammt schön und traurig. Ich halte mit der Pinzette an. Fass bitte meine Jagd auf Haare nicht als Zeitvertreib auf (die Zeit kann man nicht wie ein Volk vertreiben) und nicht nur als Opfergabe an Venus, sie wirkt als Meditation und Seelenberuhigung. Ich zerre und zupfe, wenn ich zerrissen bin, reiße ab, wenn Leben flöten geht, rupfe aus, wenn irdische Liebe mir die Seele stiehlt. Und diese Beschäftigung fördert das Zerpflücken der bösen Gedanken. Tabula rasa.
    Der Wind geht auf, es ist kalt geworden, ich kriege eine Gänsehaut. Die Totenglocke wird geläutet. Gerlachs werden zu Grabe getragen, hinter den Särgen Nora, ihr Mann und ihr Kind und ein endloser Trauerzug aus Ärzten und Patienten. Und ich steige in mich, in meinen Text, wie in diese altmodischen Fahrstühle, die man Paternoster getauft hat. Auf und ab, auf und ab. Ich brauche keine Bolex, gar keine Kamera, nicht mal einen Stift. Wir lachen, boxen und küssen, ruhen und gestikulieren, unser Sein ein Gedicht, unsere Körper Leben pur. Kein Netz der Sprache, keine schwarze Kammer wäre fähig, dies festzuhalten: die Intensität deines Streichelns. Unsere Hände tasteten Urerinnerungen: Lippen begegnen dem Wasser eines Brunnens, die Zunge leckt Schnee ab, die Gischt des Meeres bettet Füße um, ein Sommerwind schenkt uns Frische, die großen Hände eines Vaters, einer Mutter um ein Baby, ach, schließlich haben wir nur uns, um dieses Grundwasser zu schöpfen.
    Diese Worte, Viktor, sind nur Graffiti in Platons Höhle, aber solange es sie gibt, besteht eben unsere kleine Welt und ich lasse es mir nicht nehmen, unsere Vergangenheit auf meine Art zu besiegeln.
    Also lasse ich meine Härchen ins Nichts fallen, genetische Kommas, die meine Glieder beschrifteten, ich puste sie weg, sie schweben davon und – wer weiß? – der Wind, der sie fortbringt, wird sie vielleicht über den Ozean weit weg vor deine Füße fallen lassen. Ich bin so weit.

1
    V iktor schlug die Kommentare seiner Freundin und seiner Familie in den Wind. Ich möchte lieber in Frankfurt bleiben, klagte Klara, überleg es dir lieber gründlich, drohten die Eltern, die finanzielle Belastung solltest du nicht unterschätzen, du wirst ganz schön einsam sein ohne uns, prophezeite seine Schwester Sophie. Glaubst du?, erwiderte Viktor und lächelte. Trotz seiner Aufregung und der schneidenden Kälte lief er mit langsamen Schritten und atmete tief ein. Die Luft war schön, die Nacht war schön, hier allein in Köln zu sein war schön. Er musste bis zur Verabredung bei Doktor Gert Gerlach noch eine halbe Stunde totschlagen. Die Praxis befand sich am Rand der Stadt. Keine günstige Lage, meinte sein Vater. Viktor hatte beschlossen, sich die Beine zu vertreten, und zu Fuß die nächste Gasse genommen, Richtung Wald. Als er die Nase zum Straßenschild hob, beschlug seine Brille. Er las im Nebel »Schwanenweg«, nachdem er die Gläser mit dem Ärmel geputzt hatte, häutete sich dieser zum Schlangenweg. Wer will schon am Schlangenweg wohnen?, fragte er sich. Die weihnachtliche Beleuchtung der Häuser und Gärten sprang ihm ins Auge, jedes Haus schien mit seinem Schmuck die anderen übertrumpfen zu wollen. Strahlten links zwei Rentiere aus Leuchtröhren, glänzten rechts dickbäuchige Weihnachtsmänner auf dem Schlitten, prüfte bei Nummer sechzehn ein kitschiger Nikolaus seine Auftragsbücher, war Nummer neunundzwanzig vollständig umkränzt von Lichterketten. In Viktors Brust schnurrten Behaglichkeitsgefühle, er ließ sich gern von Menschen anrühren, die ihre weihnachtliche Besinnung so naiv zur Schau stellten, sie konnten nur gute Menschen sein,
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