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Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Titel: Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Autoren: David Hair
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Nimtaya-Gebirge, Antiopia
Julsept 927
1 Jahr bis zur Mondflut
    Von Osten drangen die ersten Sonnenstrahlen über die zerklüfteten Berge, ein dünner Schrei ertönte aus einem Misthaufen an der windabgewandten Seite einer Ansammlung heruntergekommener Lehmhütten. Zitternd hing der Schrei in der Luft, eine Einladung für jedes Raubtier. Schon bald tauchte ein Schakal auf und schnupperte vorsichtig in der Luft. In der Entfernung jaulten und kläfften noch andere, doch dieser, so nahe an seiner Beute, huschte lautlos dahin.
    Da: ein zuckendes Stoffbündel zwischen Unrat und Müll. Kleine braune Gliedmaßen, die sich freistrampelten.
    Der Schakal beobachtete es, dann kam er vorsichtig näher. Das hilflose Neugeborene rührte sich nicht mehr, als der Schakal sich über es beugte. Es war noch zu klein, um zu verstehen, dass das warme, fürsorgliche Wesen, in dessen Armen es vor Kurzem noch gelegen hatte, nicht wiederkommen würde. Es hatte Durst, und die Kälte begann wehzutun.
    Der Schakal sah kein Kind, er sah Nahrung. Seine Kiefer öffneten sich.
    Einen Wimpernschlag später wurde er durch die Luft gewirbelt, seine Hinterläufe schlugen gegen einen Fels. Er wand sich vor Schmerz und versuchte zu fliehen, schlitterte den Abhang hinunter, den er zuvor so lautlos und grazil heraufgekommen war. Sein Blick schoss hin und her auf der Suche nach der unsichtbaren Gefahr. Ein Hinterbein war gebrochen; er kam nicht weit.
    Eine unförmige in Stofffetzen gehüllte Gestalt erhob sich und glitt auf das Tier zu. Der Schakal knurrte und schnappte nach der Hand mit dem großen Stein, die sich über ihm hob. Ein gedämpftes Knacken, Blut spritzte. Ein Gesicht schälte sich aus den Lumpen. Ledrige Haut, drahtiges, stumpfes Haar. Eine alte Frau. Sie beugte sich herab, bis sie die Schnauze des Schakals beinahe mit den Lippen berührte.
    Dann atmete sie ein.
    Später am selben Tag saß die alte Frau im Schneidersitz in einer Höhle hoch über einem ausgetrockneten Tal. Die Landschaft unterhalb war rau und karg, ein Wechselspiel aus Licht und Schatten zwischen kantigen Felsvorsprüngen. Sie lebte allein, niemand rümpfte die Nase über den Gestank ihres ungewaschenen Körpers oder wandte die Augen von ihrem verschrumpelten Gesicht ab. Ihre Haut war dunkel und spröde, das verfilzte Haar grau, ihre Bewegungen jedoch, als sie Feuer machte, waren elegant. Der Rauch stieg in eine Felsspalte und zog von dort nach draußen – einer ihrer zahllosen Großneffen hatte den Kamin für sie in den Fels geschlagen. Und auch wenn die Frau sich an seinen Namen nicht erinnern konnte, hatte sie doch ein Gesicht vor Augen.
    Mit einem Löffel träufelte sie Wasser in den geschürzten Mund des Neugeborenen. Es war eines von Dutzenden, die die Dörfler jedes Jahr aussetzten, unerwünscht und zum Tode verdammt vom ersten Atemzug an. Alles, was sie von ihr wollten, war, dass sie die Babys auf ihrer Reise ins Paradies begleitete. Die Dörfler verehrten sie als eine Heilige und ersuchten sie oft um Hilfe. Die Schriftgelehrten tolerierten sie – oder sahen weg –, denn auch sie waren auf ihre Dienste angewiesen, hatten ihre eigenen Toten, die versorgt werden mussten. Von Zeit zu Zeit versuchte irgendein Fanatiker, die Jadugara – die Hexe – zu vertreiben, aber die hielten selten lange durch. Die Jadugara war schwer loszuwerden. Und wenn man sie mit vielen Leuten suchte, konnte sie sehr schwer zu finden sein.
    Die Dörfler brauchten sie als Vermittlerin, um Kontakt mit ihren Vorfahren zu halten. Sie sagte ihnen, was sie wissen wollten, und im Gegenzug bekam sie zu essen und zu trinken, Kleidung und Brennholz – und die unerwünschten Kinder. Sie fragten nie, was aus den Kindern wurde. Das Leben hier war hart, der Tod kam schnell. Es war nie genug für alle da.
    Das Kind auf ihrem Schoß schrie. Seine Lippen zuckten, suchten nach Nahrung, während die alte Frau mitleidlos auf das Baby hinabblickte. Auch sie war ein Schakal, wenn auch von anderer Art, und Urgroßmutter ihres eigenen Rudels. Als sie jünger gewesen war, hatte sie Liebhaber gehabt und selbst ein Kind bekommen. Ein Mädchen, das zu einer Frau herangewachsen war und viele weitere Kinder in die Welt gesetzt hatte. Die Jadugara wachte über ihre Vorfahren, Figuren in ihrem unsichtbaren Spiel. Sie lebte schon länger hier, als irgendjemand ahnte, tat so, als würde sie altern und sterben und eine andere an ihre Stelle treten – seit Jahrhunderten. Die Grabhöhle, in der angeblich ihre Vorgängerinnen
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