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Der unsichtbare Turm

Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm
Autoren: Nils Johnson-Shelton
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Kapitel 1
    IN DEM WIR VON DEM GLÜCKSFALL
DES DRACHENTÖTERS ERFAHREN
    Art »Artie« Kingfisher – zwölf Jahre alt, spindeldürr und nicht annähernd gebräunt genug für ein Kind im Juli – hatte soeben Caladirth erlegt, eine Drachendame mit geschärften Rubinen als Zähne und gebogenen goldenen Stacheln als Hörner. Eines der Hörner lag zertrümmert auf dem Boden wie ein zersplitterter Besenstiel. Artie fand, dass es ganz schön clever war, ausgerechnet die Hörner zur Achillesferse zu machen. Im Ernst, jeder in Anderswelt wusste doch, dass man Drachenhörner eigentlich immer meiden sollte.
    Die Drachendame lag zu Arties Füßen, orangefarbenes Blut tropfte von ihrem zerbrochenen Horn. Die Drachenhöhle kam ihm auf einmal leer vor. Eigenartig, wenn man bedachte, dass sie einen zehn Tonnen schweren toten Drachen, drei riesige schwarze Dracheneier und einen glitzernden Schatz enthielt, der kaum in Arties leere Schultertaschen passen würde. Er hatte noch einiges an Arbeit vor sich.
    Artie ließ sich zu Boden fallen und untersuchte Qwon, seine doppelschneidige Axt, auf Kampfschäden. Sie hatte ein paar neue Kerben, aber das war nichts, was der Dorfschmied nicht reparieren konnte. Er atmete tief durch. Er war zufrieden. Für eine Weile würde es keine neuen Aufgaben geben.
    Als er prüfend an sich hinuntersah, machte er eine eigenartige Feststellung: Er schwitzte. Das ergab zwar keinen Sinn, war aber nicht zu leugnen.
    Artie versuchte, seinem Schweiß keine Beachtung zu schenken und schloss die Augen. In der Höhle tropfte Wasser, das Feuer der Fackel knisterte. Davon abgesehen war es sehr ruhig. Er war allein.
    Doch dann fühlte er plötzlich ein vertrautes Kribbeln im Nacken, als würde er mit mehreren Federn gleichzeitig gekitzelt.
    Artie spürte immer sofort, wenn seine Schwester sich ihm näherte. Und in diesem Moment kam Kay in ihre gemeinsame unterirdische Höhle gekrochen und versuchte, Artie zu erschrecken. Vor Arties innerem Auge formte sich ein Bild von ihr: Ihre langen roten Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug eine Cargohose und das blaue T-Shirt mit einem karatekämpfenden Gartenzwerg darauf. Ohne in ihre Richtung zu schauen, war ihm klar, dass sie dachte, sie habe eine echte Chance, ihn endlich mal zu erwischen.
    Es war vorhersehbar. Er kannte sie einfach zu gut und wusste, dass sie wusste, dass er wusste, dass sie versuchen würde, ihm einen höllischen Schrecken einzujagen. Sie hatten den größten Teil ihrer Kindheit damit verbracht, dieses Spiel zu spielen, und bisher hatte es noch nie geklappt.
    »Ha, hab dich!«, platzte Kay heraus, als sie ihn fest, aber spielerisch, in den Rücken stieß und ihm dabei die Virtual-Reality-Brille vom Kopf schlug. Artie schnappte nach Luft und Kay war überrascht zu sehen, dass Artie schwitzte. Sie fragte: »Warte mal – hab ich dich jetzt gerade wirklich erschreckt?«
    Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und lächelte. »Natürlich nicht. Ich hab dich schon längst bemerkt.« Er nahm den Xbox-Controller in die Hand und stellte Anderswelt auf Pause. Seit er das Videospiel im April zum Geburtstag bekommen hatte, war er besessen davon.
    »Ich hab dich schon längst bemerkt«, äffte Kay ihn scherzhaft nach. »Wie auch immer, Kleiner. Ich hab dich erwischt.«
    »Nö.«
    »Wie du meinst.«
    Kay, die schon dreizehn war, unglaubliche ein Meter zweiundachtzig groß und die Gliedmaßen einer Gottesanbeterin hatte, schlenderte an Artie vorbei ins Videospielzimmer. »Was treibst du?«, fragte sie neugierig.
    Das Videospiel, das Artie im Inneren seiner Virtual-Reality-Brille gespielt hatte, war auch auf dem an der Wand angebrachten Flachbildschirm zu sehen. Als sie die gefallene, aus ihrem Horn blutende Drachendame erblickte, schrie Kay auf: »Artie! Du hast es geschafft?« Sie beugte sich näher zum Fernseher. »Wow, Wahnsinn!« Kay drehte sich um und strahlte Artie mit ihren außergewöhnlichen Augen an: Eines war himmelblau und das andere kleegrün. »Wie hast du rausgefunden, wie man sie töten kann? Sag schon, wie?« Sie packte Artie und umarmte ihn kurz.
    Artie und Kay waren sich so nahe, wie ein zwölfjähriger Junge und seine dreizehnjährige Schwester es nur sein konnten – vor allem, da sie aus irgendeinem Grund immer schon, wie eineiige Zwillinge, auf telepathische Weise miteinander verbunden gewesen waren. Was noch seltsamer war, wenn man bedachte, dass Artie adoptiert war. Artie freute sich, dass Kay ihm ihre
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