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Der unsichtbare Turm

Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm
Autoren: Nils Johnson-Shelton
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Anerkennung zeigte. Normalerweise war es andersrum. Kay war weder eine Niete im Videospielen noch in irgendwas anderem. Sie war nicht so gut wie Artie in Anderswelt , aber dafür war sie in Call of Duty und Fallout umso besser und hatte schon ungefähr fünf Riesen bei Turnieren gewonnen. Artie war sicher, dass sie bei dem großen Turnier in der nächsten Woche einen weiteren Sieg einheimsen würde. Kynder, ihr Vater, wollte sie beide hinfahren. Artie legte den Controller und die Brille auf den Boden und streckte die Beine von sich. Er trank einen Schluck Limonade aus einer unbeschrifteten Plastikflasche und erzählte ihr, wie er es endlich geschafft hatte.
    Eigentlich hatte er nach ein paar Versuchen einfach Glück gehabt. Es gab einen Schlupfwinkel hoch oben in der Ostseite der Höhle, in den er seinen Zauberkrieger Nitwit den Grauen hineingelenkt hatte. Der Schlupfwinkel befand sich auf Höhe von Caladirth’ Kopf. Die Drachendame wusste, dass Nitwit dort war, aber sie griff nicht an. Denn in genau diesem Winkel lagen auch ihre drei schwarzen Dracheneier. Im Prinzip benutzte Artie sie als Schutzschilder – Caladirth würde ihre ungeborene Teufelsbrut nicht opfern, nur um Nitwit zu bezwingen. Das passte ihr natürlich nicht, daher tanzte die Drachendame vor dem Schlupfwinkel herum, wobei sie ihren Kopf vor und zurück schwang und mit dem Schwanz auf den Boden schlug. Doch Artie hatte keine Angst. Er war vielmehr unzufrieden, denn was auch immer er tat, er schaffte es einfach nicht, das Biest zu töten. Er beschloss, es mit einem weiteren Feuerball zu versuchen. Das war der stärkste magische Spielgegenstand, den er hatte.
    Doch wie er so auf den Knöpfen herumdrückte, hatte er aus Versehen das Menü erwischt, in dem der nächste magische Spielgegenstand angezeigt wurde, den er noch nicht bekommen hatte. Caladirth’ Hörner leuchteten sofort rotglühend auf. Artie erklärte Kay: »Zuerst dachte ich, wenn ich sie töte, wäre ein aus ihren Hörnern gefertigtes Schwert eine nette Sache, aber dann hatte ich es auf einmal. Es war wie eine Eingebung oder so. Nur um sicherzugehen, bin ich noch mal in das Spielgegenstand-Menü gegangen, und tatsächlich leuchteten ihre Hörner wieder rot auf. Also schaltete ich zurück in den Kampfmodus, zielte auf die Hörner und griff mit Qwon an. Sobald ich einen direkten Treffer gelandet hatte, heulte sie auf und kippte um. Und das war’s.«
    Kay starrte ihn an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wow, die Hörner. Wer hätte das gedacht?« Sie schnappte sich Arties Limo und nahm drei große Schlucke. Dann zuckte sie mit den Achseln und sagte: »Du wirst wohl den Colaköppen in den Foren davon erzählen müssen.« Artie hatte nie verstanden warum, aber Kay nannte Computerfreaks Colaköppe.
    »Komm schon, Schwesterchen, du weißt, dass ich die Spieleforen hasse.«
    »Jaja, du Spielpurist, ich weiß. Gehe nie auf Lösungsseiten und so. Ist doch egal, Artie. Du hast dir die Ehre verdient. Gib mal ein bisschen an!«
    Sie hatte gut reden. Auch wenn Artie seine Schwester liebte, er war einfach nicht wie sie. Kay war total witzig, eine super Videospielerin, schnelle Läuferin, ehemaliger Jugend-Baseball-Star und Einserschülerin, die dazu auch noch tanzen konnte – mit anderen Worten: supercool. Er hingegen war ein annehmbarer Videospieler, schmächtig, ein leichtes Opfer für Schlägertypen und ein notorischer Dreierschüler, tanzte nie und war nur wegen seiner supercoolen Schwester einigermaßen annehmbar.
    Doch der Hauptgrund, warum Artie keine Aufmerksamkeit wollte, war Frankie Finkelstein. Die vielen Jahre, in denen er die volle Wucht von Frankie Finkelsteins unkontrollierter Wut abbekommen hatte, hatten ihn gelehrt, dass es am besten war, sich bedeckt zu halten. Schon das kleinste bisschen Auffälligkeit bot Finkelstein ausreichend Gelegenheit, Artie zu schlagen, zu treten, zu würgen, zu schubsen und zu beschimpfen.
    Was ihn alles gleichermaßen ankotzte.
    Aber während ihm all das durch den Kopf ging, wurde ihm klar, dass seine Schwester vermutlich recht hatte. Er hatte Caladirth erlegt, verdammt noch mal! Warum sollte er sich nicht ein wenig damit brüsten?
    Artie sah Kay an und sagte: »Ja, okay. Ich glaub, ich mach’s.«
    »Großartig!«, rief sie. »Aber jetzt noch nicht, Kleiner. Erst müssen wir Kynder im Garten helfen.«
    »Ach ja.«
    Also gingen Artie und Kay die Treppe hinauf in die Küche. Artie schraubte seine Limo zu und verstaute sie ganz hinten im Kühlschrank.
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