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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs
Autoren: Abdellah Taïa
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Dunkelheit. Ich bin blind.
    Eine Stimme begleitet mich in diesem endlosen Fall, diesem einsamen Tod. In die ewige Hölle.
    Â»Bye-bye. Du bist kein Marokkaner mehr. Du bist kein Marokkaner mehr, bye-bye. Du hast keinen Vater mehr, bye-bye. Du hast keinen Vater mehr . . . bye-bye . . . du hast keinen König mehr.«
    Ich falle noch immer. Ich habe Angst. Große Angst.
    Ich lache jedoch weiter. Wie Hassan II . Genau wie Hassan II .
    Â 
    Ich erwachte schlagartig. Ich sprang auf. Mein Herz hämmerte weit über mich hinaus. Meine Augen waren noch dort unten. Ich keuchte vor Angst. Aus Unverständnis. Ich hörte noch die Stimme von Hassan II . Sein gewaltiges Lachen.
    Ich bin verwirrt. Ich erkenne nichts wieder.
    Wo bin ich?
    Wer bin ich, wenn ich kein Marokkaner mehr bin?
    Wo ist mein Vater?
    Zwei Tage ist das jetzt her, glaube ich. Zwei Tage? Auf einmal bin ich mir da nicht mehr sicher.
    Wir haben Freitag. Es ist Morgen. Sehr früh. Bald wird die Sonne hier aufgehen. Vorerst aber beherrscht die Nacht noch alles um mich herum. In Rabat nicht, denke ich. Ja, der Tag ist in Rabat sicher schon angebrochen. Salé, meine Stadt, die Stadt, in der ich lebe, in der ich gelebt, mein kurzes Leben verbracht haben werde, ist allein in der Nacht, allein am Ende der Nacht. Allein in dieser Reise durch die Stunden, dieser Unermesslichkeit, diesem Ozean, in diesen Tagen, die sich wiederholen, endlos wiederholen. Salé hat mich infiziert. Mit seiner Einsamkeit. Seiner Bosheit. Seiner Schlechtigkeit. Seinem miesen Ruf. Seinen Drogen. Seinem Haschisch. Seiner Vergessenheit. Seinem Verrat. Ich stecke in alldem fest. Ich stecke fest. Jetzt sehe ich klar.
    Es war nicht Donnerstag. Es war nicht Mittwoch.
    Es war in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Stimmt das? Sicher? Ich glaube . . . Ich glaube.
    Genau das werde ich der Polizei sagen. Und Gott. Nur nichts vergessen.
    Ich werde mit dem ursprünglichen Alptraum beginnen. Mit diesem Traum eines jeden Marokkaners, der endlich wahr wird und gleich danach zerbricht. König Hassan II . gegenüberzustehen. Dem König. DEM König. Ich kann es noch immer nicht fassen, dieses Glück und diesen Fluch erlebt zu haben. Diese Freude und dieses große Unglück. Die Nacht im Palast. In dem von Rabat? Dem von Casablanca? Von Fès? Von Meknès? Von Tetuan? Von Marra
kesch? Von Agadir? Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Ich kenne diese Paläste nur aus dem marokkanischen Fernsehen. Sie sind alle gleich. Wirklich und unwirklich in einem. Aber egal. Was ich sagen werde, ist:
    In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist der Palast zu mir gekommen. Die ganze Nacht lang. Es war wie in einem Theaterstück. Ein Vorsprechen wurde organisiert, um einen Spaßmacher für den König auszuwählen. Einen Hofnarren. Sie kamen mich abholen. Dann hieß es, ich sei zu jung. Vierzehn Jahre. Ist das jung, vierzehn Jahre? Für sie schon. Für mich nicht. Ich bin ein Mann. Vor zwei Monaten war ich noch keiner. Heute bin ich einer. Ich spüre es. Überzeugt bin ich jedenfalls von diesem Gefühl: Ich bin kein Kind mehr, ich bin ein Mann. Jedenfalls mehr als Khalid.
    Khalid war mein bester Freund. Oder einfach: mein Freund. Der Freund. Ich liebte ihn. Ich kannte ihn auswendig. Ich beschützte ihn im Collège. Und sogar danach. Nur ihm erzählte ich alles. Meinen Traum in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Diesen Wahr-Traum. Ich war stolz. Ich hatte Hassan II . früher gesehen als er. Ich erzählte ihm alle Einzelheiten. Ich weiß, dass in Marokko alle Angst haben. Ich weiß, dass man mit niemandem über den König und die königliche Familie im Allgemeinen sprechen darf. Bei Khalid aber gab es nichts zu befürchten. Er behielt für sich, was ich ihm anvertraute. Da war ich mir sicher. Wir hatten unsere gemeinsamen Geheimnisse. Unsere ewigen Geheimnisse. Einen Pakt. Wir waren Blutsbrüder.
    Ich war der Stärkere. Und Khalid gefiel das, meine Kraft, meine Art, den kleinen Halunken zu mimen. Ihm gefiel, dass ich aus einer anderen Welt kam. Die Armen. Mal was Neues für ihn, sagte er oft. Er fand das exotisch. Er
wollte mich immer besuchen. Unser Haus ist klein und schlicht, zu schlicht. Die Villa, in der er wohnte, war ein Palast. Aber er sagte, nein, das sei kein Palast. Ich regte mich jedes Mal auf, wenn er den Bescheidenen spielte, damit ich nicht spüren sollte, wie unterschiedlich wir
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