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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs
Autoren: Abdellah Taïa
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Der Tag des Königs
    Â 
    Für Tristan Huguen
    Ich bin vor ihm. Ich scheine zu träumen, träume aber nicht. Er ist es. Eindeutig er. Ein Mann, den ich gut kenne. Allzu gut. Sein Gesicht sieht genauso aus wie auf den Bildern, die überall hängen, wie das Bild von ihm, das jeden Abend im marokkanischen Fernsehen zu sehen ist. Ein rundes Gesicht. Kleine Nase. Harte, stechende Augen, mit denen nicht zu spaßen ist. Ein gönnerhaftes, dominantes Gesicht. Ein wenig düster. Fern. Nah. Es ist charmant. Entschlossen. Grausam. Zärtlich. Alles zusammen. Ich erkenne es wieder. Ich träume nicht. Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich bin vor ihm. Vor ihm? Wirklich? Ja, vor ihm. Er ist es. Er ist dort hinten, im Hintergrund, er sieht mich nicht. Ich gehe auf ihn zu. Ich habe keine Wahl. Er zieht mich an, er beherrscht mich. Ich gehöre ihm. Er ist der König.
    König Hassan II .
    Er ist schön. Ich liebe ihn. Kein Zweifel, ich liebe ihn. Ich habe gelernt, ihn zu lieben. Seinen Namen auszusprechen. Ihn auszurufen.
    Er ist schön. Er ist bedeutend. So schön, so bedeutend.
    Wir sind in einem Salon. Riesig. Eine Halle. Eine salonartige Halle. Niemals hätte ich mir einen solch großen, solch unermesslichen Salon vorgestellt. Ich bin beeindruckt, aber nicht eingeschüchtert.
    Der König ist vor mir. Der König ist fern. Ich will ihn mehr aus der Nähe sehen. Ich laufe auf ihn zu. Ich laufe, ich laufe. Ohne zu atmen. Dann falle ich. Leute lachen. Ich begreife, dass ich mit dem König nicht allein bin. Mein König. Rings um ihn ein Durcheinander. Viele Frauen.
Sie sind alle sehr elegant in ihren prachtvoll leuchtenden Kaftanen. Sie sind alle sehr schön. Sie kommen aus allen Gegenden Marokkos. Sie lachen über mich. Ich falle hin und bin auch schon den Tränen nahe: Das amüsiert sie. Sie lachen lange, ohne mich wirklich anzusehen. Ohne die schwarzen Diener zu bitten, die genauso jung und schön sind wie sie, mir aufzuhelfen und beizustehen. Sie lachen. Anmutig. Immer noch auf dem Fußboden und seltsamerweise nackt, fange auch ich bald an zu lachen. Und ich richte mich auf und beginne erneut zu laufen.
    Der König ist immer noch fern. Dort hinten.
    Der König lacht nicht wie im Fernsehen.
    Der König ist plötzlich ganz nah. Er hält mich auf.
    Ich halte an. Ich werfe mich nieder.
    Er fragt: »Wie heiße ich?«
    Ich antworte naiv, einfältig: »Hassan II . König Hassan II . von Marokko.«
    Er sagt: »Nein. Mein Familienname? Wie lautet mein Familienname?«
    Ich weiß ihn nicht. Er ist mir entfallen. Habe ich ihn je gewusst? Ich denke nach. Ich blicke den König an. Eine Sekunde. Ich senke den Kopf. Ich bin kein Rebell.
    Für mich braucht ein König keinen Familiennamen. Deswegen ist er ja König und der Stärkste und gebietet über seine Untertanen, die hingegen Familiennamen tragen müssen, um zu existieren, zu leben, zu gehorchen.
    Ich weiß ihn nicht. Ich bleibe stumm vor dem König. Mit gesenktem Kopf. Ich schließe die Augen.
    Ohne wütend zu werden, wiederholt er: »Wie lautet mein Familienname?«
    Ich weiß es nicht. Ich schweige noch immer. Wo bin ich? Und jetzt? Was tun?
    Ich hebe den Kopf. Jetzt blicke ich den König an. Ich bin ein Held.
    Er wirkt nicht bösartig. Er wirkt normal, ein menschliches Wesen, kein königliches Ungeheuer. Er ist ruhig. Ein wenig belustigt. Zunehmend belustigt. Über mich? Über die Situation?
    Er streckt mir die Hand entgegen, ohne mich zu erreichen, als wolle er mir über den Kopf und den Nacken streichen. Er streicht darüber.
    Ich schließe die Augen. Ich mache sie wieder auf.
    Er hat sich mir genähert. Seine beiden Hände umschließen meinen Hals, und er würgt mich immer stärker.
    Â»Mein Familienname? Schnell, schnell. Mein Familienname? Schnell, hab ich gesagt.«
    Ich grabe in meinem Kopf ein Loch. Einen Schacht in meinem Gedächtnis. Ich steige hinab, ganz tief hinab.
    Der König: Ich bin mit ihm geboren, ich kenne nur ihn, ich sehe nur ihn, ich achte nur ihn. Er ist überall. Er ist der Gebieter. Er ist der Vater. Er ist Gott. Wie kann man nur seinen Familiennamen nicht wissen? Wie kann man diese wichtige Auskunft über ihn nicht wissen? Wie nur? Hat er überhaupt einen?
    Ich grabe noch immer. Ich denke nach. Ich denke nach.
    Ich atme nicht mehr. Ich atme nicht mehr.
    Mir wird schwummrig. Alles wird rot.
    Ich träume
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