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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs
Autoren: Abdellah Taïa
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nicht. Er sah sie ein paar Sekunden lang ungläubig an und senkte dann den Blick und den Kopf. Mein kleiner Bruder Othman war zu jung, um zu begreifen, was vor sich ging. Und ich? Ich war ganz ungewollt ihr Komplize. Gekauft hatte sie mich schon vor Jahren.
    Ich hasse sie, meine Mutter. Ich will nicht, dass sie wiederkommt. Ich will nicht wieder meiner Schande neben ihr begegnen. Frei zu sein ist mein innigster Wunsch. Frei ohne sie. Frei, und endlich an der Seite meines Vaters.
    Damals, in meiner frühen Kindheit, benahm sich mein Vater wie ein Wilder. Übrigens nannte meine Mutter ihn so. Er brüllte. Er hatte eine blühende Gesundheit, eine überbordende Sexualität, einen ungeheuren Appetit. Er aß für zehn. Er trank für zwanzig. Wenn er zu Hause war, wirkte seine Gegenwart wie das geballte Leben. Wie die Quelle des Lebens. Er trug einen Bart, wie ihn sonst die Propheten tragen. Das stand ihm gut. Er roch streng, aber das störte uns nicht im Geringsten. Er machte auf Macho, doch wir wussten alle, dass er eigentlich keiner war.
    Mein Vater war die Seele der Familie. Ihre Triebfeder. Ihr Blut.
    Neben ihm war ich gar nichts. Ich habe nur einen Bruchteil seiner Kraft von ihm geerbt. Eine Kraft ohne Macht, die mein Freund Khalid so gerne in mir freilegte.
    Mein Vater war ein Riese. Er kam aus der Gegend von Doukkala. Sein verlorenes Paradies, wie er immer wieder sagte.
    Mein Vater ist nicht mehr mein Vater.
    An einem regenlosen Wintermorgen war er plötzlich ein anderer. Er war zum Gegenteil dessen geworden, der er bisher gewesen war. Alt war er allerdings noch nicht. Er war gerade erst 48. Alles an ihm hatte sich verändert. Von nun an war er kraftlos, er ließ den Kopf hängen, hatte schlaffe Schultern. Sogar seine Atmung hatte sich verändert: Sie war unhörbar. Zuweilen zitterte er. Vor Angst? Vor Kälte? Er zitterte besonders vor meiner Mutter. Sie war diejenige, die nun an seiner Stelle schrie. Das Heft in der Hand hatte. Alle Entscheidungen traf, ohne ihn auch nur zu fragen. Die Nachbarinnen sagten, aus ihr sei ein Mann geworden. Zu Recht.
    Meine Mutter machte ihre Revolution. Sie befreite sich. Fand ihre Jugend wieder. Und deshalb musste sie unsere Welt zerstören, den Mittelpunkt unserer Welt: meinen Vater.
    Meine Mutter entpuppte sich als grausam. Als herzlos. Ich versuchte manchmal, Entschuldigungen für sie zu finden. Vergeblich. Ich verstand sie nicht. Vielleicht habe ich nie versucht, sie zu verstehen.
    Ich will meine Mutter nicht verstehen. Sie ist weggegangen. Jemand muss sie jetzt töten. Mein Vater kann das nicht. Mein kleiner Bruder auch nicht. Ich aber schon. Und ich werde es tun.
    Was wollte sie eigentlich? Was sollte diese ihre fortwährend gegen uns gerichtete Revolte bedeuten? Ich war neun oder zehn, als meine Mutter uns den Krieg erklärte, und vieles verstand ich damals noch nicht. Außerdem war sie meine Mutter. In meinem Hass auf sie war auch Liebe. Vier Jahre später verstand ich noch immer nichts von dieser Frau. Aber ich sah, was sie anrichtete. Ich war Zeuge ihres Verrats. Ich half ihr sogar dabei. Ich sah die Männer, die am helllichten Tag zu Hause vorbeikamen, wenn mein
Vater bei der Arbeit war. Sie kamen ihretwegen von weit her. Ich hörte, wie sie Sex machten. Sie schämte sich nicht. Seit Langem hatte sie mich schon handzahm gemacht.
    Ich verurteilte sie nicht. Heute muss ich es aber endlich tun. Sie wird nicht wiederkommen. Ich werde alles Erdenkliche tun, damit sie dort in dem Kaff bleibt, das sie so liebte.
    Heute bin ich der Mann. Ein Mann für meinen Vater. Schön und stark für meinen Vater.
    Meine Mutter war schön. Ihre Schönheit war gewiss ihre Freiheit. Die Nachbarinnen beneideten sie. Verfluchten sie. Zu Recht.
    Meine Mutter war schön, aber ich sah es nicht. Meine Mutter war jung. Sie war meine große Schwester. Eine solche Beziehung zwang sie uns auf.
    Liebte sie mich? Liebte sie meinen Vater?
    Warum hatte sie meinen Vater in dieses große Unglück gestürzt? Was war zwischen ihnen vorgefallen? War ihre Liebe vorbei? Endete für sie die Sklaverei?
    Ich werde es nie erfahren. Ohne es jemals zu begreifen, werde ich so dem Tod entgegengehen, voller Hass auf diese mysteriöse, schwarze Frau. Vollkommen schwarz.
    Im Viertel hieß es, sie habe meinen Vater mit einem mächtigen Fluch belegt. Einem Fluch, der von dem jüdischen Hexenmeister Bensimon aus der Mellah von Rabat ausgesprochen
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