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Dies Herz, das dir gehoert

Dies Herz, das dir gehoert

Titel: Dies Herz, das dir gehoert
Autoren: Hans Fallada
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V ORSPIEL
Der Auswanderer
Die Leute vor der Fabrik
    Dort, wo Berlin-Charlottenburg seinen Charakter als Wohnstadt verliert, wo es, selbst Industriestadt geworden, an die Riesenwerke der Siemensstadt angrenzt, liegt in einer kleinen Straße die Metallwarenfabrik »Hermann Wiebe«. Von der Straße aus sieht man nicht mehr von dieser Fabrik als ein paar Pultdächer aus Glas oder Schiefer, eine hohe rote Mauer verwehrt jeden weiteren Einblick.
    Diese Mauer ist sehr hoch und oben noch mit Glassplittern besetzt, sie ist sehr lang und sehr hässlich rot – kurz, sie gleicht genau einer Gefängnismauer! Und die beiden Tore aus Eisenblech in dieser Mauer, ein breites Durchfahrtstor und ein kleineres für den Fußgängerverkehr, können das Gefühl von Trostlosigkeit, das den Beschauer angesichts dieser Mauer beschleicht, nicht erleichtern: es sind gnadenlose Tore, Tore der erbarmungslosen Pflicht. Außerdem sind sie zur Stunde verschlossen. Dafür klebt ein Aushang an dem kleineren Tor.
    Die Buchstaben aus geschmiedetem Eisen über dem Tore, die da besagen, dass dies die »Metallwarenfabrik Hermann Wiebe« ist, waren wohl ehemals golden, aber jetzt hat das Schwarz der rußenden Fabrikessen und der Rost des zergehenden Eisens ihnen längst ihren Glanz genommen. Sie sehen genauso düster, freudlos und hässlich aus wie alles in dieser kleinen Charlottenburger Fabrikstraße, wie selbst dieser Novembermorgen: nasskalt, grau und trübe. EinMorgen, der den dringenden Wunsch nach heilem Schuhwerk wach werden lässt.
    Vor dem Fabriktor steht eine kleine Gruppe von Arbeitern – etwa zehn oder zwölf Mann. Sie stehen ziemlich nah vor dem Aushang, den sie aber längst gelesen haben. Es sind junge und alte Männer, aber, ob jung oder alt, die hinter ihnen liegende lange Leidenszeit mit Weltkrieg und Inflation und all den Kämpfen, Sorgen und Miseren danach hat ihren Gesichtern den gleichen Ausdruck von sturer Hoffnungslosigkeit aufgeprägt. Sie sind ganz schlecht gekleidet, die Jacketts, die sie über ihre blauen Arbeitsblusen gezogen haben, sind entfärbt und ohne alle Fasson, faltig hängen sie über die gebeugten Rücken – bei den Jungen wie bei den Alten.
    In diesem Augenblick sehen sie – nahe dem Plakat stehend – mit einem Ausdruck wohlwollender Verachtung auf einen von ihnen, der mit Ausdauer den dicken, altmodischen, eisernen Klingelknopf am Fußgängertor zieht.
    Der Klingler sieht seine Arbeitskollegen herausfordernd an. »Det wolln wa doch ma sehn!«, sagt er und reißt immer wieder an dem Klingelknopf. »Det könn se doch mit uns nich machen! Wenigstens rinlassen müssen se uns! Det is meen Arbeetsplatz!«
    Ein junger Arbeiter sagt, aber nicht zu ihm, sondern zu den andern: »So doof! Der klingelt sich noch dusslig! Die haben drinnen doch bestimmt die Klingel abjestellt!«
    Die andern nicken beifällig.
    »Da kannste jar nischt machen! ›Wegen Auftragsmangel geschlossen‹ – da steht et doch! ›Restlohn und Papiere sind am Freitag vom Stadtbüro abzuholen‹« – sagt ein älterer Arbeiter. »Euschen, jib dir – wat hat denn det for eenen Sinn!«
    Das Zureden macht den Klingler nur noch wilder. »Sodürfen se mir nich kommen! Det wolln wa doch ma sehn! ’n Hund lässt man abends in seine Hütte, und wir ...«
    Er reißt am Klingelknopf.
    »Lass ihm det Vajniejen, Maxe«, sagt wieder ein anderer. »An wat muss er sich doch beruhigen! Valleicht denkt er, er zieht den großkotzigen Herrn Syndikus Wiebe an de Neese, det tut ihm jut ...«
    Ein junger Arbeiter fragt einen sehr alten, der, an einen Laternenpfahl gelehnt, ein Bein hochgezogen, dasteht und nachdenklich an seiner durchlöcherten Schuhsohle herumbiegt: »Und wat machst du, Willem?«
    »Ick kieke mir meine Schnellbesohlerei an. Det is mit meene Sohlen schlimmer wie mit ’nem Schweizerkäse: Loch bei Loch!«
    »Nee, ick meene, wat tuste nu?«
    Der alte Arbeiter sieht ihn an: »Det fragste? Wozu fragste det? – Ick jehe stempeln. Wat denn sonst? Bei mir stempeln schon viere zu Hause, na, nun bin ick der Fünfte, der stempelt. Haben Vater und Kinder doch denselben Weg, wird sich Mutta freuen!«
    »Und du versuchst jar nich, Willem – Pst! Kieke mal! Kennste den, der da kommt?«
    Eine Autotaxe ist vorgefahren. Undeutlich sieht man in ihrem Innern einen jungen Mann, der vom Hintersitz aus den Fahrer bezahlt. Alle Arbeiter haben stumm die Köpfe nach dem Wagen gewandt, auch der Klingler, der aber seinen Knopf nicht loslässt. Ihre Gesichter sehen weiter
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