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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs
Autoren: Abdellah Taïa
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worden war. Dem mächtigsten Hexenmeister der Stadt. Ganz Marokkos vielleicht.
    Warum? Warum nur? Erlangen die Frauen bei uns auf diese Weise ihre Freiheit? Indem sie die Männer wahnsinnig und krank machen? Indem sie sie langsam, aber sicher ins Jenseits befördern?
    Ich bin erst vierzehn. Wie soll ich das wissen? Wie verstehen? Wem soll ich all diese Fragen stellen?
    Meine Mutter war fortgegangen. Weit weg, in die Nähe dieser Stadt, von der alle sagen, sie sei prächtig, Azemmour.
    Meine Mutter hatte in unserem kleinen Haus im Bettana-Viertel das Licht gelöscht.
    Sie machte sich mit meinem kleinen Bruder Othman auf den Weg. Sie sagte, sie wolle ihre kranke Mutter besuchen. Zwei Monate später war sie noch immer nicht zurück.
    Seither hört mein Vater gar nicht mehr auf zu weinen.
    Ich selbst habe nicht geweint. Ich konnte nicht weinen.
    Wir lebten zu zweit.
    Ich konnte meine Mutter nicht wirklich hassen, aber auch ich verfluchte sie von morgens bis abends. Manchmal flehte ich sie an, küsste ihr die Füße. Ich erkannte ihre Macht an. Ich bat sie demütig, zurückzukommen und meinen Vater zu erlösen, ihm seine Seele, seine Vitalität zurückzugeben. Seine Würde. Seinen aufgesetzten Männlichkeitswahn.
    Ich flehte sie im Stillen an. Ohne Antwort. Ohne Echo.
    Â 
    Heute Morgen ist er zu mir gekommen.
    Heute Morgen hat mein Vater einen Entschluss gefasst. Jemand hatte ihn davon überzeugt, dass meine Mutter ihn mit einem Fluch belegt hatte, einem böswilligen Fluch, einem Fluch von Juden, einem Fluch des Teufels. Es war mehr als dringend, sich von ihm zu befreien, sich enthexen zu lassen. Und wer konnte den Fluch eines mächtigen Hexenmeisters aus der Mellah von Rabat rückgängig machen? Mein Vater hatte sich erkundigt. Er war fündig geworden. Sein Retter hieß Bouhaydoura. Dieser war erst zwei Tage zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden.
    Mein Vater weckte mich.
    Ich war zum wiederholten Male mitten in meinem alphaften Traum mit Hassan II .
    Ich sah nur seinen Rücken. Seine Tränen waren unschwer zu erahnen.
    Und seine Stimme, wie die eines kleinen Jungen, bat mich: »Du kommst doch mit mir zu Bouhaydoura, nicht? Du kommst doch? Du kommst doch?«
    Es war gerade erst neun Uhr morgens. Bei Bouhaydoura hatte sich eine beeindruckende Menschenmenge versammelt. Nur Frauen.
    Auf dem Weg zum Hexenmeister wollte ich einen Moment lang meinen Vater in meinen Traum vom Vortag einweihen. Und gleich verzichtete ich wieder darauf. Mein Vater war mit den Gedanken woanders. Er wäre unfähig gewesen, mir zuzuhören. Dieser Traum war wichtig für mich. Für mich und meinen Freund Khalid, dem ich ihn sicher erzählen würde. Nicht für meinen Vater.
    An diesem Mittwochmorgen versuchte mein Vater, seine Haut zu retten. Seine Vergangenheit. Seine Herkunft. Seine Männlichkeit.
    An diesem Morgen war ich mit meinem Vater zusammen. Ich begleitete ihn. Er konnte nicht allein hingehen. Er war das Kind. Ich war der Erwachsene.
    Bouhaydoura war der Richter. Sein Haus ein Gerichtshof. Rings um ihn eine Atmosphäre des Weltuntergangs.
    Unsere Angst war gleich zu Beginn groß und wurde plötzlich greifbar, augenscheinlich. Sie hatte einen Geruch. Einen Atem. Grundfarben. Schwarz. Weiß. Grün. Sie war ein Bild. Sie war verkörpert. Gott unter uns, ein Mensch. Bouhaydoura war dieser Mensch. Er war Gott.
    Mittwochmorgen, es war wie am Tag des Jüngsten Gerichts. Wir hatten alle Angst. Das Paradies. Die Hölle. Kein Fegefeuer. Doch niemand weinte. Wir warteten. Verängstigt, entschlossen, gespannt.
    Bouhaydoura war zurück.
    Die vier Jahre, die er im Gefängnis zugebracht hatte,
hatten seinem Ruf nicht im Geringsten geschadet. Seine Macht, seine Zauberkraft, seine Heiligkeit, das, was von seinen Ahnen auf ihn übergegangen war, stammten aus weit zurückliegenden Zeiten. Bouhaydoura setzte etwas fort, was in der Frühzeit der Menschheit erfunden worden war. Ein Guru, ein Meister, ein Prophet. Die Zauberkunst der Ursprünge. Das Gute und das Böse, bevor sie geschieden, bevor sie klassifiziert und entsprechend verbreitet worden waren, voneinander abgespalten, überall. Bouhaydoura war berufen. Wir taten nichts anderes, als seine Mission zu erfüllen. Wir waren seine Anbeter.
    Er empfing in seinem Haus im Tabriquet-Viertel. Genauer gesagt, auf der Terrasse. Dort, inmitten der trocknenden Wäsche, warteten die treuen, die
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