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Ana Veloso

Ana Veloso

Titel: Ana Veloso
Autoren: Der Duft der Kaffeeblüte
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I
    Kaffee, fand Vitória da Silva, war das
wunderbarste Gewächs der Welt. Sie stand am geöffneten Fenster ihres
Schlafzimmers und blickte über die Felder. Bis zum Horizont erstreckten sich
die Hügel der Fazenda, und über alle zogen sich die sanft geschwungenen Reihen
des »grünen Goldes«, das über Nacht die Farbe gewechselt hatte: Die Knospen
hatten sich, kaum dass die Regenfälle der vergangenen Wochen aufgehört hatten,
geöffnet. Die Sträucher waren nun mit weißen, filigranen Blüten durchsetzt, und
von Weitem wirkte die Landschaft, als sei sie mit einer feinen Schicht
Puderzucker bestäubt worden.
    »Ob es wohl so aussieht, wenn es geschneit hat?«,
fragte sich Vitória nicht zum ersten Mal. Sie hatte noch nie in ihrem Leben
Schnee gesehen. »Ganz bestimmt aber«, dachte sie, »riecht Schnee nicht so gut.«
Tief sog sie die Luft ein, in der, ganz schwach, der zarte Duft der Kaffeeblüten
lag, der dem von Jasmin so stark ähnelte. Gleich nach dem Frühstück wollte Vitória
hinausgehen und ein paar Zweige abschneiden, eine Gewohnheit, die niemand in
ihrer Familie nachvollziehen konnte. »Warum stellst du nicht lieber ein paar hübsche
Blumen in die Vase?«, pflegte ihr Vater zu fragen. Kaffee betrachtete er als
reine Nutzpflanze, nicht als Zierde.
    Aber Vitória blieb dabei. Sie liebte die Zweige,
wenn sie wie jetzt, Mitte September, in voller Blüte standen und ihr feines
Aroma das Haus durchströmte. Sie liebte sie auch, wenn die ersten Früchte
heranreiften und die noch grünen Kirschen unter den weißen Blüten
hervorblitzten. Sie liebte sie, wenn die Kaffeekirschen zur vollen Reife
gelangt waren, wenn sie prall und rot und schwer inmitten der grünen Blätter
hingen. Am liebsten aber waren ihr jene Zweige, an denen sowohl Blüten als auch
Früchte unterschiedlichen Reifegrades hingen und an denen sich die Jahreszeiten
aufzuheben schienen.
    Gab es irgendeine andere Pflanze, die ähnlich
vielseitig war? Die kapriziös wie eine Rose und dabei Gewinn bringend wie keine
andere war? Deren Innerstes, die Kaffeebohne, von so unscheinbarem Äußeren und
zugleich von so erlesenem Geschmack sein konnte?
    Bei diesem Gedanken fiel Vitória das Frühstück
ein, zu dem ihre Anwesenheit erwartet wurde. Bedauernd schloss sie das Fenster.
Zu gerne hätte sie sich noch länger an dem Aroma und dem Anblick der
Kaffeefelder berauscht. Doch schon jetzt, am frühen Morgen, lag die Hitze
bleiern über der Landschaft. Später würde sie jede Bewegung zur Qual werden
lassen. Je länger Vitória Fenster und Vorhänge geöffnet ließ, desto schneller würde
die sengende Sonne die sorgsam bewahrte Kühle aus dem Raum vertreiben.
    »Sinhá Vitória, beeilen Sie sich! Alle warten
schon auf Sie.« Das Hausmädchen stand plötzlich im Türrahmen und trug wie immer
eine Miene zur Schau, in der sich ihre eingebildete Wichtigkeit spiegelte.
    Vitória zuckte zusammen. »Miranda, warum musst
du dich immer so anschleichen? Kannst du dich nicht ein Mal wie ein
zivilisierter Mensch benehmen? Zuerst musst du anklopfen und auf eine Antwort
warten, bevor du die Tür öffnest, das habe ich dir doch schon so oft erklärt.«
    Aber was erwartete sie auch? Miranda stand erst
seit kurzem in ihren Diensten, ein törichtes Ding ohne Manieren, das ihr Vater
dem Fazendeiro Sobral aus reiner Gutmütigkeit abgekauft hatte – natürlich
inoffiziell, denn die Einfuhr von Sklaven war schon seit 1850 verboten und der
inländische Handel streng reglementiert. Öffentliche Auktionen von frisch
eingetroffenen Afrikanern gab es seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr. Wer
weitere Hilfskräfte benötigte, musste sich auf die Fruchtbarkeit der bereits
vorhandenen Sklaven verlassen oder sich auf dem Schwarzmarkt umsehen. Und je
mehr der Nachschub an Sklaven versiegte, desto besser musste man sich um die kümmern,
die man hatte. Ein Fazendeiro, ein Gutsherr, überlegte es sich heute genauer
als vor dreißig Jahren, ob er einen aufsässigen Sklaven auspeitschen ließ.
Kranke oder hungrige Arbeitskräfte konnte sich niemand mehr leisten. Am
wenigsten Vitórias Vater, Eduardo da Silva, der eine der größten Fazendas im
Paraíba-Tal sowie mehr als dreihundert Sklaven sein Eigen nannte. Er hatte zu
viele Neider, als dass er sich Gesetzwidrigkeiten oder auch nur Verstöße gegen
die herrschende Moral, und dazu gehörten auch Misshandlungen von Schwarzen, hätte
leisten können. Und er hatte eine Frau, die es mit ihrer christlichen Nächstenliebe
sehr genau nahm. Nun
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