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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs
Autoren: Abdellah Taïa
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Hier in der Gegend ist das Tal rot.
    Ich spreche immer noch.
    Ich führe Selbstgespräche.
    Ich war zu lange in der Stille. Bevor ich dorthin zurückkehre, spreche ich. Das ist meine letzte Chance. Wie ein kleines Kind sage ich Wörter mit meinem Mund. Sie sind neu. Ich sage sie auf Arabisch: die Sprache, die mir gegen meinen Willen gegeben wurde und die alle anderen beinhaltet, die der Ahnen, die in mir noch lebendig sind. Ich spreche mit ihnen. Ich spreche sie aus. Ich erzähle sie.
    Ich spüre, dass ich einmal einen Mord begehen werde. Also spreche ich. Um diesem Verbrechen zu entgehen, spreche ich. Ich spreche leise. Ich murmle. Ich lese. Ich sehe.
    Gott ist nicht tot. Er schläft nur.
    Ich suche einen Schatz. Er wird ein Geschenk sein. Für wen?
    Für mich.
    Ich denke an mein unvollendetes Gemälde. Ich wollte es mir holen. Es stehlen. Die Liebe zu Sidi Hamid hielt mich davon ab. Ich habe ihm eine Spur hinterlassen, eine glückliche und unglückliche. Den Beweis für meine Besitzergreifung. Für meine Entfremdung. Ein Bild in Verzückung, ein schwarzes und unvollendetes Bild.
    Die Welt öffnet sich und schließt sich wieder vor mir. Die Stimmen sprechen schneller. Das Böse verbreitet sich. Die maßlose Einsamkeit empfängt mich. Der Königspalast von Rabat rückt näher. Ich sehe die Polizei ringsum. Die Risiken. Die Angst. Ich bleibe stehen. Ich kenne die Geschichte, die mich dort erwartet. Ich wende mich Salé zu. Ich betrachte es, diese kleine, erdrückte Stadt. Weit, weit
entfernt von den Jahrhunderten ihres Ruhmes. Ich streichle sie. Ich beweine sie: eine schwarze Wolke kommt von fern für sie, auf sie zu. Ich kann nichts machen. Bald wird das dichte Schwarz Salé von überall her umhüllen. In diesem Augenblick werde ich weit weg sein, versteckt in meinem entlegenen Loch in Rabat, in einem anderen Zimmer im hintersten Teil eines anderen Gartens.
    Ich bete für Salé.
    Ich bete für mich.
    Ich denke an Khalid, an Omar. Beide nackt. Ich wähle Omar, arm und verloren wie ich, ohne Mutter wie ich. Irgendwann schwarz, wie ich. Ich strecke ihm die Hand entgegen. Er nimmt sie. Er drückt sie. Er klammert sich an mich: Ich klammere mich an ihn. Ich mache ihm ein Geschenk: Ich spreche mit ihm. Er hört mir zu, er weint nicht. Ich werde ihn nicht vergessen. Durch mich wird er einmal für sein grausames Schicksal gerächt werden. Wir sagen uns auf Wiedersehen: einstweilen auf Wiedersehen.
    Ich komme nach Rabat zurück. Ich küsse es. Es stößt mich zurück. Es ist kalt. Mitten im Sommer. Es wird regnen. Immer heftiger.
    Rabat, die Hauptstadt Marokkos, kennt keinen Sommer.
    Der Winter wird die Jahreszeit meines verbleibenden Lebens sein.
    Ich bin Hadda.
    Ich bin schwarz.
    Man sah mich nicht.
    Man sieht mich immer noch nicht.
    Ich werde niemals frei sein.
    Ich werde nie ich sein. Mein eigen.
    Heute Abend nehme ich einen anderen Vornamen an.
    Ich bin Kamela gewesen. Für ein paar Minuten bin ich
noch Hadda. Heute Abend werde ich dem König, dem Himmel, den Dschinns, den Hexenmeistern, den Folterknechten, den Verbrechern, den echten und falschen Imamen, den Männern, nur den Männern, meinen neuen Vornamen sagen. Mit meiner neuen Stimme.
    Amal.
    Amal, wie mein Bruder, der kleine Halunke, der wegen einer Lappalie im Gefängnis starb.
    Amal, wie ein Junge. Amal, ein Vorname für ein Mädchen wie für einen Jungen.
    Amal, wie die Hoffnung, die heute Nacht für alle Zeiten sterben wird.
    Amal. Eine Andere, und immer noch schwarz. Kahlla. Kahloucha.
    Ein Stern. Ein Schimmer. Ein Trugbild. Ein endender Schrei.
    Ein Sturz.
    Ein plötzlich aussetzender Atemzug.
    Ein kalter, vergessener, unbekannter Körper.
    Ein unrechtmäßiges Grab. Ohne eigenes Land.
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