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Katzendaemmerung

Katzendaemmerung

Titel: Katzendaemmerung
Autoren: Arthur Gordon Wolf
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1. Kapitel
     
    »Katzenspiele«
Santa Catalina, 1991

Eine Möwe. Fast scheint sie in der Luft zu stehen. Nur unmerklich verändern ihre ausgebreiteten Flügel den Winkel, um den anströmenden Meerwind optimal auszunutzen. In unregelmäßigen Abständen höre ich ihren hohen, kreischenden Schrei. Für mich klingt ihr Ruf spöttisch, so als wolle sie sich darüber lustig machen, dass wir Wesen am Boden es ihr nicht gleichtun können. Ich lege meinen Stift auf die noch unbeschriebene Seite und konzentriere mich ganz auf den Vogel. Wie ein angeleinter Drachen pendelt er sanft in der stärker werdenden Brise. Zuweilen fliegt die Möwe parallel zum Strand, womöglich, um Meer und Land gleichermaßen im Blickfeld zu haben. Geeignete Beute kann sich schließlich in beiden Sphären aufhalten.
    Angestrengt beobachte ich ihren Kopf; nur ganz selten einmal neigt sie ihn nach unten. Der Vogel ist nicht auf Nahrungssuche, unentwegt blickt er auf einen fernen Horizont. Ob er von dort oben wohl die nahe Küste des Festlandes erspähen kann? Ich bezweifle es. Und selbst wenn es so wäre, welche Gefühle mag er wohl damit verbinden? Etwa Sehnsucht? Ich für meine Person bin jedenfalls froh, dass zwischen hier und der südkalifornischen Küste knapp vierzig Kilometer Wasser liegen. Eigentlich ist es nur ein Katzensprung (ein unglücklicherer Vergleich konnte mir wirklich nicht einfallen; Gott sei Dank ist es deutlich mehr), in weniger als zwei Stunden hat man mit dem Schiff sein Ziel erreicht. Die Weite des Meeres täuscht jedoch eine fast unüberbrückbare Barriere vor. Auf meine Seele üben die Wellen immerhin eine beruhigende Wirkung aus. Eine vielleicht nur trügerische Ruhe – ich bin mir dessen bewusst – eine vielleicht nur scheinbare Sicherheit. Aber existiert überhaupt so etwas wie Sicherheit? Sind wir Menschen nicht alle zu jeder Zeit unzähligen Gefahren ausgesetzt?
    Ich starre auf den weißen Fleck am Himmel, ohne ihn wirklich zu sehen. Warum sollte es ausgerechnet mir anders ergehen?
    Unwillkürlich muss ich lächeln. Warum sollte gerade mir es vergönnt sein, einen paradiesischen Frieden zu genießen? Mir, der jede nur erdenkliche Sünde auf sich geladen hat, der selbst heute noch – nahezu zwei Jahre nach den Vorfällen in Yucca Springs – mindestens einmal pro Woche schreiend aus einem Albtraum erwacht. In manchen Stunden der Nacht bin ich sogar fest davon überzeugt, dass dieser Albtraum nie wirklich ein Ende gefunden hat. In diesen Nächten gehe ich hinaus auf die Veranda und lasse den kühlen, salzigen Wind über meine Haut streifen. Lange Zeit stehe ich dann frierend da, völlig bewegungslos und blicke hinaus auf das schwarzblaue Meer. Das Geräusch der ewigen Dünung vermag es fast immer, meine Ängste zu mildern. Es will der Brandung allerdings nie gelingen, die Nachtmahre völlig zu besiegen. Und das ist vielleicht auch gut so. Ein verrückter Gedanke? Nein, denn nur so bleibe ich wachsam, argwöhnisch. Nur zu gut weiß ich, wie schnell aus diesen Träumen wieder grausame Realität werden kann. Jederzeit! Die Gefahr ist gerade dann am größten, wenn man glaubt, alles überstanden zu haben.
    Klinge ich jetzt etwa paranoid? Vielleicht. Aber wer wäre das an meiner Stelle nicht? Es kümmert mich nicht; lieber ein wenig verrückt, als nochmals jenen Höllentrip durchstehen zu müssen. Nein, bleiben wir bei der Wahrheit: Lieber völlig verrückt!
    Der Spottschrei der Möwe übertönt meine finsteren Gedanken. Sie fliegt wieder seitlich zum Meer, und diesmal meine ich, ihre winzigen Augen erkennen zu können. Wer beobachtet nun wen? Wieder stößt sie ihren schrillen Ruf aus; höhnisch, gehässig, anklagend. »Freu’ dich nur nicht zu früh«, scheint sie mir zuzurufen. »Auch dich wird noch die gerechte Strafe ereilen!«
    Langsam massiere ich meine schmerzhaft pochenden Schläfen. Ich muss sie wohl falsch verstanden haben, denke ich. Freuen? Auf was sollte ich mich schon freuen?
     
    Diesmal habe ich in meinem tragischen ›Buch der Erinnerungen‹ nur eine Seite freigelassen, bevor ich mit dem Schlussakt der Geschichte begann. Anders als noch bei den ersten beiden Teilen lässt sich in den folgenden Ereignissen eine nahtlose Verbindung, eine Art roter Faden (ein blutroter) entdecken, der genau dort ansetzt, wo ich vor vielen Monaten einen vorläufigen Schlussstrich zog. Trotz des recht langen zeitlichen Abstandes übermannten mich damals die schmerzhaften Erinnerungen so sehr, dass ich einfach abbrechen
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