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Das Glück mit dir (German Edition)

Das Glück mit dir (German Edition)

Titel: Das Glück mit dir (German Edition)
Autoren: Lily Tuck
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Seine Hand wird langsam kalt; sie hält sie immer noch, sitzt an seinem Bett, weint nicht. Von Zeit zu Zeit legt sie ihre Wange an seine, holt sich ein wenig Trost aus der Berührung mit den Bartstoppeln. Sie spricht auch ein bisschen mit ihm.
    Ich liebe dich, sagt sie.
    Ich werde dich immer lieben.
    Je t’aime , sagt sie.
    Für den Abend ist Regen vorhergesagt, und sie hört, wie der Wind draußen auffrischt. Er fährt durch die Äste der Eichen, und irgendwo am Haus schlägt ein Fensterladen, und dann noch einmal. Sie darf nicht vergessen, ihn zu bitten, den Laden zu reparieren – nein, erinnert sie sich. Ein Auto fährt vorbei, das Radio spielt laut einen Heavy-Metal-Song, dessen Worte sie nicht versteht. Teenager. Wie wenig sie wissen, wie wenig sie ahnen, was das Leben für sie bereithält – oder der Tod.
    Vielleicht sind sie betrunken oder bekifft. Sie stellt sich die über den Nachthimmel jagenden Wolken vor, die die Sterne halb verbergen, und das Auto, das die unbefestigte Straße hinunterrast und Steine hinter sich aufspritzen lässt wie Schüsse. Ein Schrei. Ein Fenster wird heruntergekurbelt und eine Bierdose hinausgeworfen, die sie morgen früh aufsammeln wird. Sie ärgert sichdarüber, ihn kümmert es nicht groß, und auch das macht sie wütend.
    Eine Melodie geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwie kommt sie ihr bekannt vor, aber sie ist nicht musikalisch. Sing! , neckt er sie manchmal, sing doch etwas! Er lacht, und dann singt er selbst. Er hat eine schöne Stimme.
    Sie beugt sich vor, um die Worte mitzubekommen:
    Anything can happen on a summer afternoon,
    On a lazy dazy golden hazy summer afternoon.
    Fast ist sie versucht zu lachen – Lazy? Dazy? Wie dumm dieses Lied klingt. Und wie lange ist es her, seit sie es gehört hat? Dreißig, nein, vierzig Jahre. Das Lied, das er gesungen hat, als er sie umwarb, ein Lied, das sie davor und danach kaum jemals gehört hat. Sie fragt sich, ob es das Lied wirklich gibt oder ob er es erfunden hat. Sie möchte ihn danach fragen.
    Behutsam dreht sie mit dem Zeigefinger an dem goldenen Reif an seinem Ringfinger. Ihr eigener Ring ist schmaler. Auf der Innenseite stehen in geschwungener Schrift ihre Namen: Nina und Philip . Im Laufe der Zeit haben sich die Buchstaben abgenutzt zu Nin und Phi i . Wie mathematische Symbole sehen ihre Namen nun aus – sehr passend.
    Sein Ring ist ungraviert. Das Original ist ihm vom Finger gerutscht und im Atlantik verschwunden, als er an einem Sommernachmittag allein vor der bretonischen Küste segelte.
    A lazy dazy golden hazy … die Melodie will ihr nicht aus dem Kopf gehen.
    Morgens, wenn er zur Arbeit aufbricht, küsst Philip sie zum Abschied, und abends, wenn er heimkommt, küsst er sie zur Begrüßung. Er küsst sie auf den Mund. Sein Kuss ist nicht leidenschaftlich, manchmal allerdings verspielt, dann schiebt er, wie als eine Art Erinnerung, die Zunge in ihren Mund. Meistens ist der Kuss zärtlich, freundschaftlich.
    Wie war dein Tag?, fragt er.
    Sie zuckt mit den Schultern. Irgendwas liegt immer im Argen: ein kaputtes Gerät, eine undichte Stelle, ein Maulwurf, der im Garten herumwühlt. Zum Malen hat sie nie genug Zeit gehabt.
    Und deiner?, fragt sie.
    Was hat er darauf geantwortet?
    Gut?
    Er ist Optimist.
    Wir hatten eine Fakultätssitzung. Du solltest hören, wie diese jungen Physiker reden! Philip schüttelt den Kopf, tippt sich mit dem Finger an die Stirn. Verrückt, sagt er.
    Aber Philip ist nicht verrückt.
    Trotz des alten Spruches – von wem war der gleich?   –, dass Mathematiker die Tendenz haben, verrückt zu werden, während Künstler meist geistig gesund bleiben.
    Das Problem ist die Logik. Nicht die Fantasie.
    Sie zieht mit dem Finger seine Lippenkontur nach. Ihr kommen lauter Bilder trauernder Frauen in den Kopf, die mit dem Tod vertrauter sind als sie selbst. Dunkelhäutige Frauen aus Mittelmeerländern, Frauen mit Schleiern, Frauen mit langem, unfrisiertem Haar, leidenschaftliche, würdelose Frauen, die sich über die blutigen und verstümmelten Leichen ihrer Ehemänner, Väter, Kinder werfen und ihre Gesichter mit Küssen bedecken, und die dann mit Gewalt weggezerrt werden müssen und dabei laut heulen und ihr Schicksal verfluchen.
    Sie ist bloß ein schwaches, blasses Gespenst. Mit der freien Hand berührt sie ihr Gesicht, nur so zur Sicherheit.
    Am Tag ihrer Hochzeit regnet es; manche Leute halten das für ein gutes Zeichen, andere sagen, man würde nur nass.
    Sie ist abergläubisch. Wenn sie es
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