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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs
Autoren: Abdellah Taïa
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lässt man mich nicht höher zur Schulter hinauf, am Arm und Ellbogen des Königs entlang. Den königlichen Wohlgeruch endlich entdecken. Ihn einatmen. Ihn mir einprägen.
    Ich muss nachdenken. Schnell. Schnell.
    Ich denke nach. Eine Sekunde. Zwei Sekunden.
    Ich werfe einen raschen Blick nach rechts. Bin ich gerettet? Tatsächlich, ich bin es. Einer der drei schwarzen Diener gibt mir zu verstehen, dass ich noch einmal die Hand umdrehen und dreimal den Handrücken küssen muss.
    Welch ein Glück! Ich bin gerettet! Ich bin gerettet!
    Ich küsse die königliche Hand ein letztes Mal mit mehr Eifer. Und so langsam gelange ich immer höher den Arm hinauf.
    Ich werfe dem Diener, der mich soeben gerettet hat, einen Blick zu. Er wirkt entsetzt, er schüttelt ganz aufgelöst den Kopf. Er protestiert. Er dreht gleich durch. Ich setze trotz allem meinen Weg fort, glücklich, aufgeregt, wie besessen von der Frage, wie der König riecht.
    Ich eile den Arm entlang.
    Ich blicke erneut den schwarzen Diener an, der mich gerettet hat. Er kommt auf mich zu. Er ist außer sich. Die beiden anderen auch. Sie wollen mich sicher davon abhalten, einen weiteren Irrtum, ein weiteres Verbrechen zu begehen. Sie wollen mich ins Gefängnis werfen.
    Ich bin schneller als sie.
    Ich bin angelangt.
    Auf der Schulter von Hassan II .
    Ich küsse sie blitzschnell dreimal. Und ich atme auf. Entzückt atme ich auf. Ich atme auf.
    Leider haben sich die Diener bereits auf mich gestürzt. Sie packen mich am Arm und zerren mich brutal vom Körper des Königs weg.
    Ich bin entsetzt. Frustriert. Ich warte auf ein Wunder. Ein neues Wunder.
    Es kommt schneller, als ich erhoffen konnte.
    Hassan II . sagt: »Lasst ihn, lasst ihn zum Ende kommen.«
    Ich bin im Glück, ein weiteres Mal. Mehr noch als bisher.
    Sie lassen mich wieder los.
    Ich falle buchstäblich über den Arm von Hassan II . her. Ich erklimme ihn erneut. Ich erreiche sehr schnell die Schulter. Dann den Hals. Und in der Kuhle, an dieser von mir so weit entfernten, so unerreichbaren Stelle, auf der bräunlichen Haut, entdecke ich endlich den Duft meines Königs.
    Es ist ein Vetiver-Duft. Eindeutig ein Vetiver, doch ein ganz besonderer, spezieller Vetiver. Speziell für ihn gemacht?
    Es ist grün. Es ist frisch. Ein Frühlingswald. Da ist der Hals des Königs. Ich atme ein, ich inhaliere, ich registriere. Und ich küsse. Nicht lange.
    Der König sagt: »Gott segne dich!«
    Ich habe es geschafft. Ich möchte singen. Ich möchte tanzen. Ich schreie. Ich springe. Ich fliege.
    Ich schließe die Augen.
    Ich öffne sie.
    Der Salon ist wieder voller Frauen. Andere Frauen. Nicht die von vorhin. Sie sind älter. Vielleicht sind es die Frauen von Mohammed V ., dem Vater von Hassan II .
    Der König sagt: »Das freut mich. Zweite und letzte Frage. Deine letzte Chance.«
    Ich verstehe nicht.
    Die Nacht ist vorbei. Wir haben Sommer. Nachmittags. Die Sonne. Die Wüste. Arabien wie im Film. Wie im Koran.
    Ich verstehe nicht.
    Der König sagt: »In welchem Jahr habe ich den Thron bestiegen?«
    Einfach. Zu einfach.
    Ich fixiere die Sonne. Ich bin geblendet. Ich betrachte sie lange.
    Ich antworte, selbstsicher, voller Stolz, mein Leben hat einen Sinn, ich bin selig: »Am 3. März 1956, mein König.«
    Hassan II . lacht laut auf. Nicht so die alten Frauen und genauso wenig die Diener. Er lacht mit weit aufgerissenem Mund, aus voller Kehle. Er lacht lange. Lange. Sein Lachen wirkt allmählich ansteckend. Ich bin der Erste, auf den es sich überträgt, dieses Lachen, dieses Ende, dieser Wiederbeginn, dieses Exil.
    Ich lache. Ich auch. Jetzt.
    Plötzlich wird mir mein Irrtum bewusst.
    1956: Das ist das Jahr der Unabhängigkeit Marokkos. Hassan II . ist fünf Jahre später König geworden. Am 3. März 1961.
    Was für ein Irrtum! Was für ein Unglück!
    Aber ich lache weiter, gegen meinen Willen. Ich habe meine Muskeln nicht mehr unter Kontrolle. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich kann nicht mehr atmen. Ich kann nichts anderes tun als: lachen. Mich auslachen.
    Wir lachen nun beide. Der König und ich.
    Plötzlich, ich wusste es, ich habe es erwartet, öffnet sich der Boden unter meinen Füßen. Der König lacht lauter. Der Saal, der gesamte Saal, ahmt ihn nun nach.
    Ich falle. Ich falle. Ich falle in den Abgrund. Ich verlasse die Erde. Ich gelange in die Unterwelt. Vor unserer Welt. Ewige
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