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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean
Autoren: Gerhard Roth
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sei es nicht um die dreitausend Schilling gegangen. »Er hat es einfach nicht ertragen können, übers Ohr gehaut zu werden, und um noch so einen kleinen Betrag erbittert gekämpft«, sagte sie. Die Journalisten schrieben stumm mit, und als die Frau darauf aufmerksam wurde, wurde sie noch unsicherer. Seit Wochen habe er sich gegrämt, weil ›sie‹ immer mit ihm gemacht hätten, was sie wollten, fuhr sie fort. Lüscher habe zu seinem Sohn gesagt, bevor er die Gewehre an sich gebracht habe, er solle sich von seinen Kameraden nicht ausnützen lassen, sonst ginge es ihm wie ihm selbst.
    Ein normaler Mensch, unterbrach sie jetzt Lüschers Frau, die bemerkte, daß sie, wenn sie geschickt war, ihrem Mann möglicherweise helfen konnte, könne doch nicht ›am hellichten Tag‹ Leute erschießen. Noch dazu, wo bei ihm zu Hause alles in Ordnung gewesen sei. »Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte sie plötzlich, »daß er viel bekommt, weil doch die anderen mit schuld an der Sache sind. Ich könnte ununterbrochen weinen.« Als der Bürgermeister in der Früh mit der Nachricht gekommen sei, daß die Jugoslawen ihren Mann gefangen hätten und er sich ergeben habe, sei sie erleichtert gewesen, nun aber sehe sie erst, wieviel Schande und Elend auf sie warteten. Daraufhin begann auch die alte Frau zu weinen.
    Hatte sich Lüschers Frau anfangs in das Weinen geflüchtet, wie es Ascher vorgekommen war, so weinte sie jetzt wirklich. Sie hatte sich nur einen kleinen Ruck geben müssen, um von dem, was sie nicht begriff, zu dem, was sie fühlte, zu kommen.
    In einer Ecke des Hofes stand ein kleiner, eiserner Ofen im Schnee. Eine Schar Enten watschelte herum, Brotstücke lagen auf dem Boden. Ascher hatte keine Lust mehr, mit den Journalisten zusammenzubleiben. Zuerst wies sich einer von ihnen aus wie ein Polizist, dann stellten sie Fragen. Die Antworten schrieben sie auf. Einer der Journalisten war glatzköpfig, klein und beweglich, der andere hatte dunkles Haar, war dicklich und trug eine Hornbrille. Unterwegs hatte der Glatzköpfige zynische Bemerkungen gemacht, und der andere hatte dazu gelacht. Gestern habe er bei den Opfern und beim Täter nach Fotografien suchen müssen, er sei dabei von einem Gendarmen beschimpft worden. Die Frau Lüschers habe ihm ein Bild ihres Mannes gegeben, und obwohl sie im Augenblick, als sie ihm das Bild gezeigt hätte, es wieder habe zurückziehen wollen, sei es ihm gelungen, sie umzustimmen. »Ich weiß, ich habe das Bild heute gesehen«, hatte der andere geantwortet. »Sicher werden Sie uns jetzt verachten«, hatte der erste Journalist plötzlich zu Ascher gesagt. Sie waren an einem Hof vorbeigekommen, in dem ein roter Feuerwehrwagen abgestellt gewesen war. »Einerseits wollen die Leute alles wissen, andererseits verachten sie uns«, hatte er wie zur Erklärung ausgeführt. »Wir müßten bis in jede Einzelheit genau berichten, wenn es nach den Leuten ginge.« Das ekelhafteste Detail sei für sie das interessanteste.
     

33
     
    Zu Mittag plötzlich verbreitete sich die Nachricht, daß Lüscher von den Gendarmen in den Ort geführt würde. Ascher hatte gerade aufbrechen wollen. Es war noch Zeit genug, um zu Fuß zurückzugehen, aber er mußte sich beeilen, denn die Vorstellung, von der Nacht überrascht zu werden, bereitete ihm kein Vergnügen. Vielleicht würde ihn ein Wagen bis Wuggau mitnehmen, von dort würde er sehen, wie er nach Hause käme. Außerdem würde er noch einheizen müssen und vielleicht im Kaufhaus eine halbe Stunde sitzenbleiben. Er hatte im Gasthaus zu Mittag gegessen und war dann durch den Ort gegangen, als ihn einer der Männer, mit denen er am Vortag an einem Tisch gesessen war, ansprach.
    »Kommen Sie«, hatte er gesagt, »Sie werden ihn zum Verhör in das Gemeindeamt bringen.«
    Das Gemeindeamt lag am Eingang des Ortes vor dem Friedhof, dahinter stand ein kleines, hellgelbes Haus mit der Aufschrift: ›Tiefkühlanlage Oberhaag‹. Auf der anderen Straßenseite befand sich der Neubau der Raiffeisenkasse. Als er ankam, hatten sich bereits Männer und Frauen in Arbeitskleidung versammelt, einige in schwarzen Kleidern und Mänteln mit Taschentüchern in der Hand. Auch Kinder sah er. Es war noch immer ein freundlicher, warmer Tag, der Ascher wieder an die Tage im März erinnerte, wenn der letzte Schnee getaut war und er auf den Frühling wartete. Einige Männer saßen auf Traktoren, andere blickten aus Fenstern oder über Zäune, und vor dem Gemeindeamt patrouillierten zwei
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