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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean
Autoren: Gerhard Roth
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schrägsten Hängen. Hatte ein Winzer einen Grund, so war es mit Sicherheit der schlechteste. Noch heute plagen sich Kleinbauern auf winzigen, steilen Grundstücken ab, noch heute dienen ihnen die größeren Bauern als Vorbild. Für die Bauern waren die Landarbeiter immer die Dummen. Sie haben sich über ihre Dummheit lustig gemacht, in Wirklichkeit war es ihnen nur recht, daß sie dumm waren. Haben sie sie zur Arbeit gebraucht, durften sie nicht in die Schule gehen, waren sie zwölf oder vierzehn Jahre, mußten sie voll mithelfen. Natürlich hat es bessere Bauern gegeben und schlechtere, natürlich wurden sie verschieden behandelt, aber im Grunde war es dasselbe. Die Landarbeiter sind immer verachtet worden. Waren sie betrunken, hat man sie verachtet, während ein betrunkener Bauer etwas Lustiges war. Ein Knecht durfte einem Bauern nicht ungefragt einen Ratschlag geben, während die Knechte ununterbrochen Anweisungen hinnehmen mußten. Auch Lüscher hat das noch kennengelernt. Das Recht war für ihn das Höchste. Schon in der Schule haben sie ihm beigebracht, daß das Recht stärker ist als er. Indem er sich aber hinter das Recht gestellt hat, konnte ihm nichts passieren, dachte er. Ich habe mich oft genug gefragt, was die Menschen hier am gefügigsten gemacht hat, ich denke, es waren die kleinen Besitzungen. Schon der kleinste Landstreifen, den sie einem Weinzierl gegeben haben, hat ihn verändert. Sie haben kaum einen Keuschler gesehen, der nicht verbissen an seinem Grund gehangen ist, kaum einen, der nicht blind durch ein Stück Land geworden ist. Erst jetzt, wo sie in den Städten und Betrieben arbeiten, beginnen sie zu sehen.« Er hatte das Glas ausgetrunken und schüttelte Aschers Hand. Dann trat er durch die Preßglastür ins Freie, und Ascher sah ihn zwischen den Menschen verschwinden.
     

35
     
    Da es zu spät geworden war, um noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren, richtete sich Ascher darauf ein, nochmals im Dorf zu übernachten, aber nachdem der Betriebsrat sich von ihm verabschiedet hatte, traf er den Gendarmen, den er bei der Hochzeit von Hofmeisters Sohn kennengelernt und der ihn in das Haus des erschossenen Herbst gelassen hatte. Man habe Lüscher gerade weggebracht, in ein paar Tagen würde man zum Lokalaugenschein zurückkommen, sagte der Gendarm im Gasthaus. Er trug seine Uniform und war übermüdet, er hatte die vergangene Nacht kaum geschlafen, da er vor Lüschers Hof Wache gehalten habe, sagte er, falls er versucht hätte, sich zu Hause zu verstecken. Die Uniformmütze hatte er umgedreht auf den Tisch gelegt, mit einer Hand stützte er den Kopf auf. Er trank nichts, sondern rauchte nur eine Zigarette und wollte eine kurze Pause machen, bevor er heimfuhr. »Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit«, hatte er Ascher angesprochen. Dann war er plötzlich aufgestanden und vor Ascher zu seinem Wagen gegangen. Er war ein veralteter grüner Simca, auf dessen Vordersitz ein Sack mit Sojamehl lag. Der Gendarm ließ sich ächzend in das Auto fallen und warf den Sack auf den Rücksitz, bevor er die Tür für Ascher öffnete. Das erste Stück, das sie gefahren waren, hatten sie nichts gesprochen. Der Gendarm hatte starr durch die Scheibe auf die Straße geschaut und geschwiegen. Dann aber hatte er von Lüscher zu erzählen begonnen. »Wissen Sie, es war alles sehr unangenehm«, hatte er gesagt. »Ich habe kein Mitleid empfunden, aber ich wäre der Sache lieber ausgewichen, schließlich habe ich ihn gekannt.« Er schaute in den Rückspiegel, hielt an, ließ einen anderen Wagen passieren und bog nach Wuggau ab. Lüscher habe abgestritten, daß er seine Opfer vorsätzlich erschossen habe, begann er aufs neue. Draußen war es noch immer hell, und im Norden wurde plötzlich die Sicht frei auf hohe beschneite Berge, die unnatürlich gelb beleuchtet und deren Spitzen von weißen Wolken umgeben waren – die übrige Landschaft lag in einem diesigen Nachmittagslicht. Der Gendarm hatte sich wieder eine Zigarette angezündet und das kleine Kippfenster neben dem Lenkrad aufgeschoben, so daß sie ein brausendes Luftgeräusch hörten. Er habe gesagt, fuhr der Gendarm fort, daß er die Tat bereue, aber er könne sie nicht mehr ungeschehen machen. Dann sei er vom Oberstleutnant – der Gendarm nannte seinen Namen – verhört worden. Der Oberstleutnant sei ein selbstsicherer, ruhiger Mann, der – im Gegensatz zu den übrigen Gendarmen – Lüscher nie zuvor gesehen habe. Schon nachdem man Lüscher vorgeführt habe,
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