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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean
Autoren: Gerhard Roth
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Gendarmen. »Sehen Sie!« rief der Mann aus Freude, recht behalten zu haben. »Es wird nicht mehr lange dauern.« Der Bürgermeister war vor das Gemeindehaus getreten und sprach mit einem Greis, der den Hut abgenommen hatte und vor die Brust hielt. In diesem Augenblick entdeckte Ascher den Betriebsrat des Bergwerks. Nur wenige Schritte war er von ihm entfernt und lächelte, als er Ascher sah.
    »Was sagen Sie«, begrüßte er ihn.
    Er wartete kurz, während er noch seine Hand hielt, dann drehte er sich mit dem Gesicht zur Straße hin und schaute zur Dorfeinfahrt.
    »Haben Sie ihn gekannt?« fragte Ascher. »Wen? Lüscher? Sie reden, als ob er gestorben ist.« Tatsächlich hatte Ascher über ihn gedacht wie über jemanden, den es nicht mehr gibt. In dem Augenblick, als er die Tat begangen hatte, schien er in eine andere Form von Leben übergegangen zu sein, mit dem man nichts mehr zu tun hatte. »Wie war er?« hatten die Journalisten gefragt, als hätte er aufgehört zu existieren. Es war ein selbstverständlicher Mechanismus, der in Kraft trat. Sein Leben war mit dem Tod der drei Menschen, die er erschossen hatte, abgeschlossen. Es wäre, als würde er die anderen übervorteilen, wenn er jemals freikäme und sein altes Leben wieder aufzunehmen versuchte. Niemand mehr würde an seinem weiteren Schicksal beteiligt sein wollen. Natürlich würde man wissen, daß er im Gefängnis war, das würde aber so selbstverständlich werden, daß es keinen mehr berührte, dachte Ascher.
    »Er ist ein Einzelgänger«, sagte der alte Mann. »Wenn es jemandem gleich gegangen ist wie ihm, hat er sich nicht darum gekümmert, denn die anderen hätten sich ohnedies nicht so an das Recht gehalten wie er. Die Welt war für ihn in Ordnung, nur in seinem Fall funktionierte etwas nicht. Er hat sie daher auch für sich wieder in Ordnung gebracht.« Er hatte seinen hölzernen Zigarettenspitz in den Mund gesteckt und angefangen zu rauchen.
    »Nun sieht er, was passiert. Er wird es nicht begreifen.« Dann reckte er den Hals zur Dorfeinfahrt und sagte: »Dort bringen sie ihn.«
    Ascher sah die grün lackierten Volkswagenbusse der Gendarmerie in den Ort fahren. Sie fuhren mit unveränderter Geschwindigkeit vor das Gemeindeamt und bremsten scharf. Die Türen wurden aufgerissen, und ein schmächtiger Mann in Arbeitskleidung mit einer hervorspringenden Nase und gescheitelten Haaren kletterte hastig aus dem Auto. Er trug Handschellen und wurde von mehreren Männern in Mänteln umgeben. Kaum war er ausgestiegen, hatte jemand »Aufhängen!« gerufen, und die schwarzgekleideten Frauen hatten aufgeschrien und geweint. Lüscher hatte ihnen einen irritierten Blick zugeworfen, dann war er im Gemeindeamt verschwunden. Ascher konnte den Mann nicht in Zusammenhang mit den Toten bringen, er hatte auf ihn nur einen gehetzten und ungeschickten Eindruck gemacht. Etwas Umständliches war in seinen Bewegungen gewesen, und sein Gesicht hatte Mitleid gefordert. Die Frauen schluchzten, und Ascher erkannte auf einmal das hagere Gesicht des Pfarrers. Er stand mit einem blauen kurzkrempigen Hut und einem Übergangsmantel unter der Menge, eine Hand hielt er so, als trage er eine Aktentasche. Wie ein blasser Vogel sah er mit dem hochgereckten Kinn aus. Als ihn jemand ansprach, machte er kehrt und schüttelte einer weinenden Frau die Hand. Währenddessen führte einer der Gendarmen Lüschers Mutter und seine Frau in das Gemeindeamt. Die Frau verbarg ihr Gesicht in den Händen, als sie die Treppen hinaufstieg, aber es machte eher den Eindruck, daß sie die anderen Menschen nicht sehen wollte, als daß sie ihr eigenes Gesicht verdeckte.
    Der alte Mann deutete mit dem Zigarettenspitz auf das Gemeindehaus und sagte: »Kommen Sie.«
     

34
     
    Sie waren in das Gasthaus, das schräg gegenüber lag, gegangen, und der Betriebsrat hatte sich mit ihm an die Theke gestellt und ein Glas Bier getrunken.
    »Am meisten habe ich als Kind unter der Menschenverachtung hier gelitten, weniger, wie ich verachtet worden bin, als mein Vater …«, begann er. Er machte eine Pause, in der er einen langen Schluck Bier trank. »Wir konnten es nicht ändern. So haben wir begonnen, auch uns selber und alle, denen es gleich gegangen ist, zu verachten. Diese Verachtung ist geblieben, bei vielen noch. Früher hat der Bauer den Knechten und Mägden den Dachboden oder den Stall zum Schlafen zugewiesen, einer Landarbeiterfamilie das Winzerhaus. Sehen Sie sich doch an, wo die Häuser liegen: Sie liegen auf den
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