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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean
Autoren: Gerhard Roth
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geschimpft, da habe er mit der Waffe auf sie hingestoßen. Da habe es wieder einen Knall gegeben, und die Frau sei umgefallen – für Lüscher sei alles aus gewesen, weil er zwei Leute getötet habe. An dieser Stelle habe ihn der Oberstleutnant gefragt, wieso er, wenn er die zwei Toten gesehen habe, noch zu Herbst gegangen sei. Er habe nicht mehr gewußt, was er tue, habe Lüscher geantwortet. »Trotzdem haben Sie ein drittes Mal geladen«, hätte ihn der Oberstleutnant erinnert, darauf hätte Lüscher seine Antwort wiederholt. Eine Zeitlang hätte niemand gesprochen, dann habe Lüscher fortgesetzt, wegen dem »Scheu« habe er es nicht mehr gewußt. Der Oberstleutnant habe nachgedacht und ihn daraufhin gefragt, ob er schon früher Angstzustände gehabt habe, und Lüscher habe zur Antwort gegeben: »Ja, das ist schrecklich, ›der Scheu‹ geht hinein in die Knochen.« Auch damals – damit habe Lüscher den erst einen Tag zurückliegenden Tathergang gemeint – sei »der Scheu« in allen Gliedern, in den Händen gewesen. Er habe eine Todesangst gehabt. Warum, habe der Oberstleutnant wissen wollen, jedoch habe Lüscher keine Erklärung dafür gewußt. Statt dessen sei er auf die Vereinskasse des Reitklubs zurückgekommen und habe angegeben, daß seine Partner die Verträge nicht hätten rausrücken wollen, aber er habe gewußt, daß ein Vertrag vorhanden gewesen sei, und er habe sich gedacht, er wolle seine Partner nur erschrecken, dann müßten sie mit dem Vertrag heraus. Der Oberstleutnant sei nicht darauf eingegangen, sondern habe ihn gefragt, wie die Sache mit Herbst vor sich gegangen sei. Er habe mit dem Lauf der Waffe seine Tür aufgestoßen, ihn sitzen und plötzlich liegen sehen, habe sich Lüscher verantwortet. Das habe dem Oberstleutnant vorläufig genügt. »Ihre Aussagen sind zwar widersprüchlich, aber es wird reichen«, habe er gesagt. »Einerseits geben Sie dauernd an, sich nicht erinnern zu können, andererseits schildern Sie uns, wie es sich abgespielt hat.« Aber das gehe ihn vorläufig nichts mehr an. Zum Schluß habe er noch wissen wollen, weshalb er geflüchtet sei und zur Antwort bekommen, daß Lüscher es nicht mehr wisse, er habe »die Augen voller Wasser« gehabt. »Ich bin nach Jugoslawien, weil der Kommunismus ist mir lieber als das Gefängnis«, habe er nach einer Weile gesagt. Er habe das Protokoll unterschrieben, nachdem man ihm versprochen habe, er dürfe dann seine Frau und seine Mutter sehen. Gleich darauf seien diese zu ihm gelassen worden. Lüscher habe um den Sonntagsanzug gebeten, den er für die Gerichtsverhandlung brauchen würde. Als zweites habe er seine Frau gebeten, sich von ihm scheiden zu lassen, damit die Hälfte des Hofes für die Ansprüche der Familien der Opfer nicht herangezogen werden könne. Nach dieser Bitte hätten alle geweint, am meisten Lüscher selbst, aber er habe keinen Widerspruch geduldet, so daß seine Frau eingewilligt habe. Zum Schluß habe er ihr verboten, mit den Kindern über ihn zu sprechen. Sie sollten nicht auch noch durch ihre Mutter an ihn erinnert werden. »Er war sehr gefaßt, als die Frauen gegangen sind, und hat gefragt, wo man ihn nun hinbringen würde, er sei müde«, sagte der Gendarm. Er hielt an, denn am Straßenrand ging ein älterer Mann, den er kannte und zusteigen ließ. Sie fuhren gleich weiter, rechts unter ihnen lag der Wald, auf den Hügelkämmen zur linken Seite standen die Häuser. »Ihr habt Lüscher gefaßt?« fragte der alte Mann nach einer Pause. »Ja.«
    »Das ist gut. Die Nacht war sehr unangenehm. Wir dachten, er könnte versuchen, sich bei uns zu verstecken.« Sie fuhren sanft bergauf. Hinter einer Kurve kam ihnen ein Wagen entgegen, so daß sie an den Rand fahren und anhalten mußten. Der andere Wagen fuhr langsam vorbei. In diesem Augenblick verspürte Ascher den Wunsch zu bleiben. Er würde sich vor dem Kaufhaus absetzen lassen und seine Frau anrufen.
    »Und wer ist der Herr?« fragte der Alte. »Ein Doktor«, sagte der Gendarm. »Ah, ein Doktor«, wiederholte der Alte. »Hören Sie, wir hatten einmal einen Doktor hier, ich kann mich noch an ihn erinnern, der war über siebzig Jahre alt und hat Pfirsiche gezüchtet. Aber dann ist er in die Stadt zurückgekehrt.«
    Der Wagen fuhr rüttelnd die unasphaltierte Straße zum Kaufhaus weiter, und Ascher legte sich in Gedanken zurecht, was er seiner Frau am Telefon sagen würde.
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