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Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman

Titel: Mit Blut signiert - Ein Caravaggio-Roman
Autoren: Matt Beynon Rees
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Prolog

Die Stadt CARAVAGGIO im Herzogtum Mailand
Verborgen geglaubte Dinge

1577
    Der Junge saß in der Dunkelheit.
Sieh hin
, dachte er,
wie dieser Mann seinen Bauch umklammert, wie er würgt, schwitzt, sich mit schmutzigen Fingern die Haut knetet.
Die Laken stanken, aber der Junge blieb auf dem Bett sitzen. Er wollte dem Kranken nah sein, dessen Geschlechtsteile und Achselhöhlen mit den knolligen Geschwüren der Pest übersät waren. Der Sterbende war sein Vater.
    Dem Bett gegenüber lag der Großvater des Jungen. Jeder Atemzug schien den alten Mann zu ersticken, erschütterte seine schmale Brust. Auf seinem grauen Bart perlte Schweiß. Rinnsale aus Schweiß glitzerten zwischen den starren Rippen seines sich hebenden Rumpfes. Faulige Pestbeulen zeigten sich wie Blutegel unter seinen Achselhöhlen. Blutiger Urin sickerte in die Matratze. Im bleichen Sonnenstrahl, der durch einen Spalt in der Jalousie fiel, bebte sein Gesicht vor Scham.
    Die Stimme seines Vaters. Würde er sie je vergessen? Er wusste, dass er sich an die Worte erinnern würde: «Michele, warum bist du hier?» Aber würde er sich an den Klang erinnern? Ein satter Bass, verzerrt und vertrocknet im Feuer des Schwarzen Todes, bis er nur noch wie das sinnlose Gurgeln eines Mannes klang, dem eine Handvoll Sand in den Mund geschoben wurde. «Warum?»
    «Um dir Gesellschaft zu leisten, Papa.» Seine eigene Stimme. Als er älter und mit sich allein war, erinnerte er sich daran wie an die Kadenz einer unausweichlichen Melodie. Verloren und unschuldig hörte er sie in seinem Kopf. Ach, aber nie aus seiner Kehle. Diese Stimme – die widerhallte, wenn er als Erwachsener den Mund öffnete –, diese Stimme war aller Unschuld beraubt.
    «Geh, mein Junge. Du holst dir die –» Sein Vater bäumte sich auf und wälzte sich zitternd auf die Seite. Er zog die Knie an.
    Die Luft war geätzt von Kalk und Phosphor, von denen seine Mutter behauptete, dass sie die Krankheit vertreiben würden. Es kitzelte den Jungen in Nase und Lunge, ließ ihn niesen. Sein Vater hob den Kopf, eine Bewegung, die schneller als jede andere war, seit er sich infiziert hatte. Die Gesichtszüge des Mannes waren schreckensstarr. Niesen war das erste Symptom. Der Junge zwang sich zu einem unsicheren Lächeln, um ihn zu beruhigen.
    Der Kopf des Vaters sank zurück, als hätte ihn das Lächeln des Sohns von den Schultern getrennt. Er verfiel wieder in seine eigenen Qualen. Auch der Junge sorgte sich wegen des Niesens, langte mit seinem dünnen, blassen Arm unter das Zugband seiner Kattunhose und betastete seine Leiste. Keine Schwellungen, keine Furunkel. Der Phosphorgestank nahm wieder zu, und er merkte, dass er die Luft angehalten hatte.
    Sein Großvater zitterte, verdrehte die Augen weiß und blind nach oben. Er überließ seine Sehkraft dem verdämmernden Licht in seinem Schädel, auf dass ein Geist, der zu fein für die lebendige Wahrnehmung war, sich ihm offenbaren möge. Als die Pupillen sich wieder senkten, waren sie starr und blind, und der Großvater des Jungen lag still. Die Tränendrüsen seines Vaters waren ausgetrocknet durch den Essig, mit dem er versucht hatte, die Pestilenz abzuwaschen; weinen konnte er nicht mehr. Er presste die Fäuste gegen die Schläfen, als seien dieTränen nur störrisch und würden wieder fließen, wenn man sie wie einen Esel züchtigte.
    Der Junge blieb stundenlang bei ihnen. Sein Vater lag neben dem Toten und flüsterte zusammenhanglos im Fieber.
    Am Abend beklagte er sich, dass das Bett feucht und heiß sei, glitt auf den Fußboden, starrte ins Nachtschwarz. Der Junge beugte sich über ihn.
    «Du bist zu jung, Michele», keuchte er. «Zu jung, um so etwas zu sehen.»
    Zuerst glaubte der Junge, er meinte, dass ein sechsjähriges Kind nicht Zeuge des Sterbens seines Vaters werden sollte, und er schluchzte, weil er bereits spürte, wie es ohne ihn sein würde. Dann folgte er der Richtung seines Blinzelns. Er wusste, dass die schielenden, unsteten Augen seines Vaters dem Tod ins Angesicht schauten. In der Dunkelheit konnte der Junge nichts erkennen. Der Vater öffnete den Mund, um zu erklären, was er sah, aber sein Unterkiefer fiel herab, und sein Körper sank gegen den Jungen. Er hielt seinen Vater am verfilzten Haarschopf fest, damit der Kopf nicht auf den Fußboden schlüge.
    Der Junge starrte den Toten an. Über den sanften Augen kräuselte sich seine Stirn vor Trauer.
    Aber die Dunkelheit rief ihn. Er sah, wie sich dort etwas bewegte. Das Ende eines
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