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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot
Autoren: Michael Peinkofer
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verging kein Tag, an dem Sarah nicht an ihren Onkel denken musste. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr war Laydon vor Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt worden, die er, wie Sir Jeffrey vermutet hatte, in St. Marys of Bethlehem zu verbüßen hatte, jener Anstalt, der die Londoner den ebenso berühmten wie berüchtigten Namen »Bedlam« verliehen hatten.
    Was das Königshaus betraf, so hatten sowohl der Duke of Clarence als auch seine Großmutter, die Königin von England, den glücklichen Ausgang des Abenteuers wohlwollend zur Kenntnis genommen, sich jedoch nicht gesondert dazu geäußert. Weder hatte es eine Ehrung gegeben noch offiziellen Dank – schließlich hatten die Ereignisse, die Maurice du Gard und so viele andere das Leben gekostet hatten, nach offizieller Version niemals stattgefunden.
    Sarah Kincaids Bericht war in den Archiven von Scotland Yard verschwunden und unterlag der höchsten Geheimhaltungsstufe, die Geschichtsschreibung würde niemals Kenntnis von Mortimer Laydons Verschwörung und seinen beunruhigenden Zielen erhalten. Die Egyptian League war aufgelöst worden, aber wie Sarah vermutet hatte, war die Durchsuchung der Räumlichkeiten an der Pall Mall erfolglos geblieben. Hatte Mortimer Laydon tatsächlich Komplizen gehabt, die einer noch größeren und gefährlicheren Organisation angehörten, so hatten diese es verstanden, unterzutauchen und alle Spuren zu verwischen.
    Vielleicht existierte eine solche Organisation auch gar nicht, wie Scotland Yard behauptete, und war nur die Ausgeburt eines dem Größenwahn verfallenen Geistes. Vielleicht jedoch, dachte Sarah, versammelten ihre Mitglieder sich gerade jetzt, in diesem Augenblick, an einem geheimen Ort und schmiedeten einen neuen diabolischen Plan…
    Der Gedanke ließ sie frösteln, und sie beschloss, die Veranstaltung zu verlassen. Sie schlug den Weg zur Hauptpforte ein, wo ihre Kutsche wartete – und glaubte plötzlich, in der Menge der Besucher ein bekanntes Gesicht zu erkennen. Schon im nächsten Moment war es jedoch wieder verschwunden, und Sarah schalt sich eine elende Närrin, die einem Wachtraum erlegen war, einer Täuschung, die ihren Ursprung in ihrem Herzen hatte.
    Wie lange, fragte sie sich, würde es wohl dauern, bis sie ihn vergessen konnte und das, was hätte werden können…?
    »Suchst du jemanden?«
    Sarah fuhr herum – und ihr Herz wollte vor Freude zerspringen, als sie sah, dass sie sich nicht geirrt hatte. Vor ihr stand kein anderer als Kamal, freilich nicht mehr im staubigen Kaftan und mit verhüllten Gesichtszügen, sondern mit Zylinder und schwarzem Gehrock wie ein vollendeter Gentleman gekleidet.
    »Du – bist hier?«, fragte Sarah stockend.
    »Wie du siehst.«
    »Aber sagtest du nicht, dass deine Heimat die Wüste wäre? Das wir verschiedenen Welten angehörten? Dass wir zu unterschiedlich wären, um zueinander zu finden?«
    »Das sagte ich.« Kamal nickte. »Aber ich sagte auch, dass wir an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit vielleicht eine Chance hätten.«
    »Und dieser Ort und diese Zeit – ist hier?«
    »Wer weiß?« Er lächelte.
    »Wer weiß«, erwiderte Sarah und lächelte ebenfalls.
    Wieder begegneten sich ihre Blicke für eine endlos scheinende Weile. Dann bot Kamal ihr wie ein Gentleman bester Schule seinen Arm, und gemeinsam verließen sie den Kristallpalast.
    Am 8. Mai 1885 enthielt die Morgenausgabe der Times eine knappe Notiz, die von den meisten Lesern kaum oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde – nur Eingeweihte wussten sie zu deuten:
    London. Wie die Metropolitan Police meldet, ist einem inhaftierten Schwerverbrecher am frühen Sonntagmorgen der Ausbruch aus der geschlossenen Anstalt von Bedlam gelungen. Wie verlautet, soll sich der geisteskranke Insasse, der früher Mediziner gewesen ist, als Doktor ausgegeben und seine Wärter auf diese Weise überlistet haben…
    Die Polizei, namentlich vertreten durch Chief Inspector Milton Fox, maß dem Vorfall keine Bedeutung bei. Drei Jahre später, im Herbst 1888, ereignete sich eine neue, blutige Mordserie in den Londoner Bezirken Whitechapel und Spitalfields. Weder wurde der Mörder je gefasst noch wurde seine Identität geklärt.
    Doch für jene, die um die schaurigen Ereignisse wussten, die sich im Winter des Jahres 1883 zugetragen hatten, konnte kein Zweifel daran bestehen, wer es war, der im Londoner East End Angst und Schrecken verbreitete und als Jack the Ripper in die Annalen der Kriminalgeschichte
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