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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot
Autoren: Michael Peinkofer
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    PROLOG
     
     
     
    A LTE S TERNWARTE , K AIRO
    S EPTEMBER 1883
     
    Ein Firmament funkelnder Sterne spannte sich über den Häusern und Gassen der Stadt, die sich von den Ufern des Nils bis hinauf zu den Hängen des Djebel Mokattam erstreckten. Blaues Licht erhellte die Kuppeln der Moscheen und die Minarette der Stadt, beschien die trutzigen Mauern der Festung und ließ das breite Band des Flusses leuchten.
    Auf der alten Sternwarte, die einst von den Kalifen errichtet worden war, um die Vorgänge am Himmel zu beobachten und zu deuten, stand Ammon el-Hakim, und obgleich seine Augen hinaufstarrten zum glitzernden Himmel, sahen sie den Glanz der Sterne nicht mehr.
    Den Weisen von Mokattam, so pflegten sie jenen Alten zu nennen, der die Sternwarte zu seinem Domizil erkoren hatte; hier lebte und arbeitete er, und in den unzähligen Winkeln und Kammern des baufälligen Turmes häufte sich das Wissen vergangener Tage. Bücher und Schriftrollen, alte Pergamente und mancher Gegenstand, dem magische Bedeutung beigemessen wurde, hatten sich hier angesammelt. Sein ganzes Leben hatte el-Hakim der Erforschung der letzten Geheimnisse gewidmet, der letzten Rätsel, die es noch zu erforschen gab in einer Zeit, in der der Mensch die letzten Grenzen überschritt.
    Die Fremden aus dem Norden…
    Der Weise von Mokattam verachtete sie.
    Ohne Demut und Respekt betraten sie das geweihte Land, besaßen keine Ehrfurcht vor dem jahrtausendealten Vermächtnis. Die Pyramiden, die Tempel, die Grabmäler und der Sphinx – für sie waren es leblose Bauwerke, Ansammlungen von Stein, begraben von Sand und dem Staub der Zeit.
    Die Römer waren die Ersten gewesen, die den Ruhm Ägyptens mit Füßen getreten hatten.
    Dann die Griechen.
    Die Türken.
    Die Franzosen.
    Und nun die Engländer.
    Nur wenige waren unter ihnen, die Verstand genug besaßen, um zu begreifen, dass Ägypten mehr als tote Vergangenheit war, dass der Sand der Wüste den Schlüssel zur Zukunft bergen mochte. Und diejenigen, die es begriffen, waren längst nicht alle Diener des Lichts.
    Ammon el-Hakim lebte in Finsternis, und das nicht nur, weil sein Augenlicht verloschen war. Dunkelheit hatte sich über das Gemüt des Weisen gebreitet, eine Dunkelheit, die finsterer war als jede Nacht und undurchdringlicher als jeder Sandsturm. Als seine Augen das Licht der Sterne noch erblickten, hatte el-Hakim es ein letztes Mal gedeutet. Und was er gesehen hatte, hatte ihn mit Grauen und Furcht erfüllt.
    Eine alte Macht war aus den Untiefen der Geschichte wieder aufgetaucht und griff nach Geheimnissen, die nicht für sie bestimmt waren. Dinge, die verborgen bleiben sollten, wurden den Schatten der Zeit entrissen. Die Welt geriet aus dem Gleichgewicht, Chaos und Zerstörung würden die Folge sein.
    Leise sprach der Weise von Mokattam die Worte, die in eine steinerne Tafel gemeißelt waren. Das Original lag tief unter dem Sand von Memphis vergraben, eine Abschrift jedoch befand sich im Besitz der Sterndeuter von Mokattam, seit Generationen gehütet von den Weisen.

 
    Ägypten, o Ägypten!
    Eine Zeit wird kommen, in der die Götter die Erde verlassen. Von deiner Religion werden nur ferne Legenden bleiben und Worte in Stein gehauen, denen die Nachwelt keinen Glauben schenken wird. Die Frommen werden verstummen und die Finsternis dem Licht vorgezogen werden, und keines Menschen Blick wird sich zum Himmel heben. Die Reinen werden als Narren verlacht, die Unreinen als Weise verehrt. Der Rasende wird für mutig gehalten und der Verruchte für rechtschaffen, das Wissen um die unsterbliche Seele wird man leugnen.
    Aus diesem Grund habe ich, Thot, die Geheimnisse der Götter aufgeschrieben und sie an einem geheimen Ort bewahrt. Bis die Menschen reif für unser Wissen sind. Den Pfad der Nacht beschreite, wer des Mondes Geheimnis sucht. Doch hüte sich, der nach Wissen trachtet, vor dem, was in Dunkelheit lauert…

 
     

     
     
     
    I. B UCH
     
    LONDON

 
    1
     
     
     
    L ONDON , E AST E ND
    14. O KTOBER 1883
     
    Mitternacht.
    Der Glockenturm von Westminster, der das Parlamentsgebäude und die Westminster Bridge weit überragte, meldete das Ende des alten und den Beginn des neuen Tages. Aber der Klang der großen Glocke, der die Einwohner Londons den Namen »Big Ben« gegeben hatten und die einer ganzen Nation als Symbol der Größe und Überlegenheit galt, drang nicht in die verwinkelten Straßen des Londoner East End.
    Zu eng waren die mit Unrat und Schmutz übersäten Gassen, zu hoch die
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