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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot
Autoren: Michael Peinkofer
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tristen Backsteinmauern der Mietskasernen und Hinterhöfe, zu laut der Lärm, der auch um diese späte Stunde noch aus den Spelunken drang. Zum schrägen Klimpern verstimmter Klaviere gesellte sich der scheppernde Klang einer Ziehharmonika, begleitet vom geistlosen Gegröle der Betrunkenen und vom kreischenden Gelächter der Huren.
    Das schmutzig gelbe Licht, das durch die Fenster der Bars und Tavernen fiel, schimmerte matt und verschwommen im dichten Nebel, der zäh und klamm durch die Gassen kroch, vermischt mit dem beißenden Rauch aus Kaminfeuern und Kohleöfen.
    Nur vereinzelt riss der flackernde Schein der Gaslaternen Löcher in die Dunkelheit und warf spärliches Licht auf die zerlumpten, verzweifelten Gestalten, die sich in Nischen und Hauseingängen drängten. Waisen zumeist, die nicht wussten wohin, aber auch Bettler und Betrunkene, von denen es in Whitechapel mehr gab als in jedem anderen Bezirk der Stadt. Verzweiflung und Hunger waren allgegenwärtig, und um mit ihren Familien nicht in einem der berüchtigten staatlichen Arbeitshäuser zu enden, wandten sich nicht wenige Männer der anderen Seite des Gesetzes zu. Skrupellose Verbrecherbanden trieben im East End ihr Unwesen, und in den engen, finsteren Gassen, in denen es nach Fäulnis und Exkrementen stank, tummelten sich nicht nur vierbeinige Ratten, sondern auch solche, die bereit waren, für ein paar Shillings oder ein Stück Brot zu morden.
    Unter den Frauen waren die Arbeitshäuser nicht minder gefürchtet als unter den Männern, und auch sie unternahmen alles, um nicht dorthin verfrachtet zu werden – selbst wenn es bedeutete, im Kampf um das tägliche Überleben den eigenen Körper zu Markte tragen zu müssen. Wer von Natur aus mit einem attraktiven Aussehen gesegnet war und sich ein hübsches Kleid leisten konnte, ging am Covent Garden und im Theaterdistrikt auf Kundenfang, wo die Aussicht bestand, dass ein Gentleman für eine Nacht einen Florin oder gar mehr bezahlte. Die Prostituierten von Whitechapel, häufig krank und entstellt an Körper und Seele, verrichteten für einige Pence ihre Dienste, und das oft genug in dunklen Hinterhöfen und auf schmutzigem Pflaster.
    Grace Brown verfluchte den Tag, an dem sie in die große Stadt gekommen war. Drei Jahre lag dies nun zurück. Bevor ihr Ehemann beim Diebstahl dreier Orangen erwischt und in die Tretmühle geschickt worden war; bevor sie als Frau eines Zuchthäuslers ihre Stellung in der Fabrik verloren hatte; bevor sie auf die Straße gejagt worden war, weil sie die Miete für das schäbige Zimmer nicht mehr hatte bezahlen können; bevor sie aus Furcht vor dem Arbeitshaus damit begonnen hatte, ihren Körper zu Markte zu tragen; und bevor der Messerschnitt eines zahlungsunwilligen Kunden ihre linke Gesichtshälfte mit einer Narbe verunstaltet hatte. Nur eines hatte Grace Brown ihrer Konkurrenz voraus, die rings um die Fournier Street die Straßen säumte und die Röcke hochzog, um keinen Zweifel an der Natur des angebotenen Dienstes aufkommen zu lassen: Sie hatte rotes Haar, das wie ein Leuchtsignal aus der grauen Ödnis stach und die Aufmerksamkeit der Freier auf sich zog. In anderen Nächten hatte diese Laune der Natur Grace davor bewahrt, in der Gosse nächtigen zu müssen – in dieser Nacht wurde sie ihr zum Verhängnis…
    Das regennasse Pflaster der Hopetown Street schimmerte im Licht der Laternen. Nur hin und wieder kam eine Kutsche oder ein Fuhrwerk die Brick Lane herab – meist waren es nur schäbige Karren, die von abgemagerten Eseln gezogen wurden und deren Besitzer hohlwangige Männer mit bleichen, ausgemergelten Gesichtern waren; Marktschreier, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, Obst und Gemüse auf den Märkten von Covent Garden oder Billingsgate zu kaufen und andernorts einige Pence teurer feilzubieten; Kohlehändler und ihre schmutzigen Cousins, die Staubmänner, die die Aschebehälter der Stadthäuser leerten; und schließlich die Rattenfänger, für die es in allen Teilen der Stadt mehr als genug zu tun gab.
    Grace Brown sprach diesen und jenen an, erntete jedoch nichts als Spott und derbes Gelächter. Niemand wollte sich mit ihr einlassen, und ihre Verzweiflung wurde immer größer – als sich plötzlich, zugleich schön und unheimlich anzusehen, die Formen einer großen, vornehmen Kutsche aus Rauch und Nebel schälten.
    Es war ein Vierspänner, wie nur noble Herrschaften ihn sich leisten konnten, gezogen von vier schwarzen Rossen, das Geschirr silberbeschlagen. Zu
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