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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot
Autoren: Michael Peinkofer
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er sah, erfüllte ihn nur sehr bedingt mit Zufriedenheit. In guten Londoner Kreisen wäre sein von der langen Fahrt zerknitterter Gehrock wohl kaum mehr dazu angetan gewesen, einer Dame die Aufwartung zu machen; hier im Norden jedoch, wo es weniger auf Formalitäten ankam, mochte es durchaus noch genügen. Zudem war Laydon mit einer dringlichen Mission betraut, die weder Aufschub noch Eitelkeiten zuließ.
    Gemessenen Schrittes führte der Hausdiener ihn durch die Eingangshalle in den Gang, der sich daran anschloss. Warmer, flackernder Feuerschein drang vom Ende des Korridors herauf und hieß den Besucher willkommen. Kurz darauf stand Mortimer Laydon im Kaminzimmer. Die niedrige Decke war mit dunklem Holz getäfelt, die Balken dazwischen mit reichen Schnitzereien verziert. Soweit Laydon wusste, stammten sie aus einer alten Abtei, die von den Mönchen aufgegeben und dem Verfall preisgegeben worden war; Gardiner hatte sie aufgekauft und mühevoll restauriert. Die Wände des niedrigen Raumes wurden von Regalen eingenommen, die bis hinauf zur Decke mit Büchern gefüllt waren. Diese stellten jedoch nur einen Bruchteil der Wissensschätze dar, die Kincaid Manor barg. Der weitaus größere Teil davon befand sich in der Bibliothek, die im Ostflügel des Gebäudes untergebracht war und die der alte Gardiner wie seinen Augapfel gehütet hatte.
    Vor dem Kamin, auf dessen Rost ein züngelndes Feuer wohlige Wärme verbreitete, stand ein großer, mit dunklem Leder beschlagener Sessel, dessen Rückseite Laydon zugewandt war.
    »Ihr Besuch, Madam«, sagte der Diener, und aus dem Sessel erhob sich eine junge Frau, deren Schönheit geradezu überwältigend war – und das, obwohl sie sich in mancherlei Hinsicht von den Damen des vornehmen London unterschied.
    Die ebenmäßigen Gesichtszüge hatte sie von ihrem Vater geerbt. Auch die Augen, deren tiefes Blau ein keltisches Erbe erkennen ließ, schrieb Dr. Laydon der Blutlinie des alten Gardiner zu, ebenso wie den schmalen Mund und das entschlossen wirkende Kinn. Zu behaupten, dass Lady Kincaid deshalb streng und unnahbar aussah, wäre allerdings falsch gewesen, denn die Grübchen um ihre Mundwinkel und die kleine, keck hervorspringende Nase ließen ein gewitztes, schalkhaftes Wesen erahnen.
    Ihr Teint war dunkler, als es bei einer Dame ihres Standes üblich war, und um die Nase und über den Wangen waren leichte Sommersprossen zu erkennen, was auf lange Aufenthalte unter heißer Sonne schließen ließ. Das schwarze Haar fiel ihr in ungezähmten Locken auf die Schultern herab, nur mühsam im Zaum gehalten von einem samtenen Band. Das schlichte Kleid, das sie trug und das die Damen in London wohl als hoffnungslos altmodisch bezeichnet hätten, verzichtete auf die bauschenden Formen einer Krinoline und fiel glatt und sanft an ihr herab. Der blaue Samt glänzte im flackernden Licht des Feuers. Sarah Kincaid trug weder Federn noch Schmuck – die Abneigung gegen jede Form von künstlichem Putz war eine weitere Eigenschaft, die sie mit ihrem verstorbenen Vater teilte.
    »Onkel Mortimer! Welch eine Freude!«
    Ohne darauf zu warten, dass ihr Pate ihr seine Aufwartung machte, kam Sarah hinter ihrem Sessel hervor, und noch ehe Laydon auch nur dazu kam, sich zu verbeugen, hatte sie ihn schon herzlich umarmt. Im fernen London wäre jeder Besucher von solch bäuerlicher Vertraulichkeit peinlich berührt gewesen – in der Einsamkeit des rauen Nordens entbehrte sie nicht eines gewissen Charmes.
    »Sarah, mein Kind.« Laydon wartete, bis sie sich von ihm gelöst hatte, dann bedachte er sie mit einem milden Lächeln. »Wie lange ist es her? Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«
    »Seit Vaters Beerdigung«, erwiderte sie, und die Wiedersehensfreude in ihren Zügen verschwand hinter einem dunklen Schatten.
    »Wie ist es dir seither ergangen? Verzeih, Sarah, dass ich nicht eher dazu kam, dich zu besuchen, aber meine Anwesenheit in London und am königlichen Hof war dringend erforderlich.«
    »Das kann ich mir vorstellen.« Sarah lächelte wieder, nicht ohne Stolz. »Schließlich will Ihre Majestät die Königin nicht auf ihren besten Leibarzt verzichten.«
    »Sarah.« Laydon errötete. »Es schmeichelt mir, dass du so von mir denkst. Aber zum einen hat die königliche Familie viele Leibärzte, und zum anderen maße ich mir nicht an, der beste zu sein.«
    »Bescheiden wie immer. Du hast dich nicht verändert, Onkel.«
    »Du ebenso wenig, wie es den Anschein hat.« Der Doktor machte eine ausgreifende
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