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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot
Autoren: Michael Peinkofer
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Grace Browns maßloser Verblüffung verlangsamten die Tiere ihren Tritt, gerade als die Kutsche sie passierte, und das vornehme Gefährt hielt an.
    »He, du.«
    Der Kutscher, ein breitschultriger Mann, der ein wollenes Cape trug und den Hut tief ins Gesicht gezogen hatte, um sich vor der klammen Kälte der Nacht zu schützen, zog die Bremse an.
    »Sprichst du mit mir?« Erstaunt blickte Grace sich um – aber außer ihr war niemand da.
    »Mit wem denn sonst?« Der Kutscher beugte sich zu ihr herab. »Bist du auf der Suche nach Arbeit?«
    »J-ja.«
    »Mein Herr dort«, er deutete über die Schulter zur Kutsche, in deren dunklem Fensterglas sich Straße und Häuser spiegelten, »ist auf der Suche nach etwas Zerstreuung. Und ich denke, dass du genau das bist, wonach er sucht.«
    »Meinst du?« Grace zupfte verlegen ihr Haar und den schäbigen Schal zurecht, den sie trug, während sie in Gedanken schon auszurechnen begann, wie viel der hohe Herr wohl springen lassen würde. Zehn Pence vielleicht oder gar einen Shilling…
    »Ganz sicher.« Die Augen des Kutschers waren im Schatten der Hutkrempe nicht zu sehen, aber der Mund und das bärtige Kinn verzogen sich zu einem ermunternden Grinsen. »Bist du mit einem Florin als Bezahlung einverstanden?«
    »E-ein Florin?«, stammelte Grace – das war mehr, als sie je von einem Freier bekommen hatte. »Natürlich bin ich einverstanden.«
    »Dann geh nur hinein. Mein Herr erwartet dich schon.«
    »Hab tausend Dank«, hauchte Grace, die sich nicht erklären konnte, woher diese günstige Wendung des Schicksals kam, und den Kutscher am liebsten umarmt hätte. Mit pochendem Herzen trat sie auf die Kutsche zu, deren Inneres in undurchdringlicher Schwärze lag und in deren dunklen Fenstern sie sich selbst sehen konnte. Kaum hatte sie sich dem Gefährt genähert, öffnete sich die Tür und schwang mit leisem Knarren auf. Die Schwärze im Inneren jedoch blieb, als weigerte sich der spärliche Laternenschein, hineinzudringen.
    »Sir?«, fragte Grace zaghaft, während sie sich vorsichtig näherte und einen Blick in die Kutsche warf.
    Für einen Augenblick schlug ihr eine eisige Kälte entgegen, und die Gewissheit, dass jemand dort in der Kutsche saß und sie mit durchdringendem Blick anstarrte, erfüllte sie. Der jähe Drang, sich abzuwenden und rasch die Flucht zu ergreifen, überkam sie, aber der Gedanke an den Florin, der für die nächsten Tage einen vollen Magen und ein Dach über dem Kopf versprach, hielt sie an Ort und Stelle.
    »Soll ich reinkommen, Sir?«, fragte sie flüsternd, doch wie zuvor drang aus dem Dunkel keine Antwort. Dafür schien sich in der Kutsche etwas zu regen. Das leise Rascheln von Stoff war zu hören und ein heller, metallischer Klang, fast wie das Läuten eines Glöckchens. Aber es war kein Glöckchen – es war der Klang rasiermesserscharfen Stahls.
    Grace Brown blieb keine Zeit, entsetzt zu sein, als die blitzend weiße Klinge aus der Dunkelheit stach und ihr mit einem einzigen Streich die Kehle durchtrenn te.
    Ein Schwall von Blut ertränkte ihre Träume und Ängste, ihre Hoffnungen und Befürchtungen, noch ehe im fernen Westminster der Glockenschlag von Big Ben ganz verklungen war.

 
    2
     
     
     
    P ERSÖNLICHER T AGEBUCHEINTRAG
    S ARAH K INCAID
     
    Ich hatte ihn wieder, diesen seltsamen Traum, von dem ich gerne annehmen möchte, dass er nicht mehr ist als ein wüster Nachtmahr, der mich von Zeit zu Zeit verfolgt. Aber die Bilder, die ich darin sehe, jene Schatten und Eindrücke, sind zu wirklich, als dass ich sie als bloße Folge eines schwer verdaulichen Nachtmahls sehen könnte. Sie sind mir auf eine Weise vertraut, die mir fast Angst macht, und dennoch kann ich mich nicht entsinnen, dergleichen je erlebt zu haben.
    Warum?
    Ist der Traum eine Folge dessen, was mir widerfahren ist? Oder entstammt er jenen im Dunkel der Vergangenheit verborgenen Tagen, die mein Vater als ›tempora atra‹, als ›Dunkelzeit‹ zu bezeichnen pflegte? Beides ängstigt mich mehr, als mir lieb sein kann, denn nach allem, was geschehen ist, will ich die Vergangenheit endlich hinter mir lassen. Selbst nach all den Monaten, die verstrichen sind, stehen mir die Geschehnisse von Alexandrien noch deutlich vor Augen, und noch immer quält mich die Frage, ob ich meinen Vater hätte retten können. Und je mehr ich darüber nachsinne, desto deutlicher fühle ich, dass der Tag kommen wird, an dem mich die Vergangenheit einholt…
     
     
    K INCAID M ANOR , Y ORKSHIRE
    1. N OVEMBER
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